Vierter Nebeltag im Graumantel 1996
Überall Finsternis, Dunkelheit und unendliche Schwärze.
Lichtlosigkeit ist voller Geheimnisse und wilder Dämonen.
Unsichtbare Augen überall, beobachten mich, Fratzen gaffen.
Besorgt wende ich mich um, überall Schwärze, keine Hoffnung.
Ich habe Angst, fürchte mich vor der Wildheit geifernder Tiere.
Ein Biss, ein Hieb, reissende Zähne, sie erscheinen mir überall.
Ich will fliehen und kann es nicht, Finsternis hüllt mich ein.
Seltsame Gerüche beissen in der Nase und widern mich an.
Ob Blut, ob Pestilenz, die Luft scheint schwer und erfüllt damit.
Vor mir ein bodenloser Abgrund. Ich weiss nicht, wo er endet.
An meiner Seite scharfe Klingen, es kann so sein, ich erahne sie.
Die Dunkelheit, sie lähmt mich, lässt mich mit der Furcht allein.
So schliesse ich die Augen und träume von dem jungen Frühling.
Die aufgehende Sonne und der frohe Gesang der Vögel überall.
Sanfter Wind streift meine Arme, die Luft duftet betörend süß.
In der Nähe, ein kleiner Bach, plätschert frisch, klar und schön.
Nackte Füsse auf weichem Gräsergrund, Schmetterlinge im Haar.
Das Summen der Bienen auf der Wiese und überall bunte Blumen.
Alles erscheint hell und klar und voller Leben, alles ist mit mir.
Kleines Reh in der Ferne trinkt kühles Naß, am kristallenen Bach.
Weiße Wolkenbäuche ziehen lautlos vorbei auf blauem Grund.
Durchwirkt ist alles, mit sprudelndem Leben und voller Pracht.
Das Glück in mir, es frohlockt und singt, und es lächelt mich an.
Das muntere Licht, es lässt mich strahlen und unbekümmert sein.
Doch dort, an dem Baum in meiner Nähe, was sehe ich an ihm?
Vor dem Licht der Sonne versteckt, da ist ein finsterer Schatten.
Er liegt fett und träge auf dem Gras, vor lauter Angst ist es ergraut.
Ich starre ihn an, bin vor Schreck gelähmt, das Herz pocht im Hals.
Das kann nicht sein, es darf nicht, niemals hier, in meinem Reich.
Zitternde Hände verbergen meine Augen, zum Schutze der Sonne.
So bin ich verzweifelt, sehe eine Bastion in meinem Herzen bedroht.
Furchtbar und übel qualvoll ist die Angst vor dem schwarzen Gebilde.
Das Singen der Vögel, das Summen der Bienen, alles das, verstummt.
Die Stille, die blanke Angst, sie zwingen mich zum Öffnen der Lider.
Ganz zaghaft, voller Scheu blicke ich mich um, die schwarzen Weiten.
Ein leichtes Rot am Horizont der Finsternis, ein schwaches Glimmen.
Gebannt sehe ich es an, welch Wunder, eine gleißende Kugel entsteht.
Ein schwaches Glitzern vor meinen Augen, meine Finger ganz grau.
Dunkelheit und Licht, ein gewaltiger Kampf, völlig still, doch atemlos.
Lauter Gesang der Vögel, Publikum und Botschafter des nahenden Tages.
Die strahlende Kugel, sie steigt auf, zwingt die Finsternis in die Nacht.
Erwachen die leuchtende Farben, das Leben, die Luft im blühenden Licht.
Mein Herz, es lacht und reckt sich der weiten Freiheit des Tages entgegen.
Die Schwere der Luft, sie füllt sich mit dem betörenden Duft der Blumen.
Schmetterlinge flattern aufgeregt, zum frischen Blau des Himmels empor.
Vergessen die Angst und der Bann, entfacht das pure Leben auf der Welt.
Ich schliesse die Augen, so frei, so unbekümmert und voller Lebensmut.
Zucke erschreckt zusammen:
Hier steckt sie nun, hat sie sich verkrochen, die Finsternis...
Was ist die Finsternis schon mehr, als nur ein Ort ohne Licht?
Gäbe es kein Licht, so gäbe es auch keine Finsternis.
Das ist wohl eine unbestreitbare Feststellung.
Das Eine, es kann einfach nicht ohne das Andere sein, doch selbst ohne jeglichem Rest von Licht, wird sich unsere Erde weiter drehen, wenn auch ohne uns.
Wir Menschen brauchen das Licht, um leben zu können. Das Licht bedeutet Leben. Unser Leben ist verdorrt und vergeht ohne das Licht. Die Finsternis ist jener bedrohlich wirkende Ort, an und in den wir nicht blicken können, den unsere Augen und Sinne nicht erreichen, ob sie es wirklich nicht können oder wir es nur nicht wollen.
Der Kamin ist erloschen, und mein kleines Haus steht in der Finsternis.
Doch ich liebe sie, die Finsternis, die Dunkelheit, die alles so ungemein gefährlich und unberechenbar erscheinen lässt, weil wir es nicht sehen können. In der Lichtlosigkeit kann ein einfacher, ganz kleiner Nagel zu einer Bedrohung für unser Leben werden. So sehr sind wir Menschen auf das Sehen fixiert, daß wir blind rasch völlig hilflos werden. Nur jene Menschen, welche ohne Licht geboren wurden, lassen die Angst nicht an sich heran und nur die reine Vorsicht walten. Sie sind schon seltsam, diese Menschen. Sie leben mit den wichtigen Lösungen zu ihren Lebensfragen eng zusammen, ohne sie sehen zu können. Daher ist es schon sehr fatal zu glauben, die Finsternis sei einfach nur durch ihre Lichtlosigkeit zu definieren. Inmitten von gleissendem Licht sind wir ebenso blind und hilflos, wie in absoluter Dunkelheit, und noch heute ist es nun nicht möglich, ganz offensichtliche Wahrheiten zu erkennen, obwohl sie sich direkt vor uns auftürmen. Ist dadurch denn nicht eher als Finsternis zu verstehen, was wir nicht in der Lage sind, zu erkennen und was sich unserer Denkfähigkeit entzieht?
Finsternis umgibt uns doch wirklich bei jeder Entscheidung im Leben, deren Antwort für uns zunächst ungewiss ist, wir sie jedoch unbedingt treffen müssen. Es ist das gleiche Gefühl, als würde man in der Dunkelheit stehen und vorsichtig einen Fuss vor den anderen setzen. In der Finsternis ist unsere Intuition das Licht, ein ganz feiner Strahl, der uns führt und dem wir nicht selten unser Leben anvertrauen. Es wäre schön, wäre es so. Leider ist es das nicht. Es ist noch sehr viel schlimmer.
Ich stehe auf und gehe zum Kamin, um mit der letzten Glut, ein wenig Zunder zu entfachen und einen grossen Holzscheit nachzulegen.
Ganz vorsichtig bin ich.
Es ist nicht gut, ein wärmendes Feuer unbedacht und wegen mangelnder Vorsicht erlöschen zu lassen. Die flinken Salamander, jene Naturgeister des Feuers, sie sind sehr dünnhäutig und ungemein leicht reizbar. Sie tragen uns jede Unvorsichtigkeit ewig lange nach, ganz anders als die anmutigen Nereides, jene seltsamen Geister des Wassers, die sich über jede kleinste Unvorsichtigkeit sehr freuen, da sie es einfach nur lieben, sich auszubreiten und dann in den Kreislauf aufzusteigen.
Wie dem auch sei, der Zunder brennt jetzt knisternd und auch zur Freude der Salamander, und ich lege das trockene Holz an seine Seite.
Wie schön es doch ist, wenn sich meine gute Stube wieder mit ein wenig Licht füllt und das Flackern des Feuers das Licht und die Dunkelheit der Schatten tanzen lassen. Gerade auch zur Zeit des kühlen und nebligen Graumantel ist es wunderbar, dieses muntere Tanzen zu beobachten und die wohlige Wärme zu spüren.
Als Hexe Angelos Wahrheitslieb kann ich es kaum verstehen, wie man heute nur noch mit Strom und Glühbirnen leben kann. Alles erscheint in ihrem Licht bleich und kalt, als würde man den Tod beleuchten. Es ist zudem so, als würde man seinen Geschwistern die Tür weisen und sich all dem Leben und dem Glück verschliessen, welches von Mutter zu unserer aller Freude geschickt wird. So viele Sinnesreize mehr bringt schon eine einfache, nervöse Kerzenflamme, so dass die Menschen sie immer wieder verwenden, wenn sie einen schönen und gemütlichen Abend bei sich, in ihren tristen Wohnwaben aus Beton, verbringen wollen. Schon ein einfacher, schmaler Kerzenschein, er ist das Zeichen für ein abgestimmtes Zusammenspiel so vieler Naturgeister und Naturphänomene, dass man regelrecht von einem kleinen Wunder sprechen kann, sieht man ihn. So spielen die samtenen Sylphen der Luft und die Salamander des Feuers munter miteinander, immer um die Erkenntnis des Lichtes und die Unwissenheit der Dunkelheit herum, so das wir Menschen schon alleine durch das Beobachten, von ihnen so vieles lernen könnten.
Doch wir Menschen wollen nicht, es sei denn, sie sind Hexen.
Das menschliche Leben ist so sehr voller Dunkelheit.
Das ist seine Natur.
Mit seinen Augen hat das nur sehr wenig zutun. Der Mensch sollte lernen, auch in der völligen Finsternis sehen zu können und sie für sich zu erhellen. Doch er zieht sich scheu zurück und kauert völlig verängstigt auf der ersten Stufe seiner Entwicklung. Er kauert dort, bis die Finsternis ihn holt. Die ganz grosse Finsternis, beinahe ein Licht fressendes Schwarzes Loch, aus Sicht der Menschen, das ist sein Tod. Niemand ist von dort zurückgekehrt, der länger als nur wenige Minuten weg war. Da gibt es nicht viel stabiles Fundament für den Glauben, obwohl eine große Zahl weiser Menschen schon gehört haben, die überzeugt meinten, daß wir an dem Ort der grössten Finsternis etwas üppig Strahlendes und unbeschreiblich Helles finden werden. Viele denken bei dieser Formulierung sogleich an Gott und seine wunderbaren Himmelsscharen, doch an einen Gott habe ich bei diesem Satz eigentlich nicht unbedingt gedacht. An dem Ort der grössten Finsternis werden wir die friedenstiftende Erleuchtung und die beruhigende Erkenntnis finden. Dort werden wir plötzlich alle Wahrheiten begreifen können, die wir nie wahrnehmen konnten, da sich das Verlies unseres Körpers in eine neue Aufgabe und eine neue Struktur auflöst. Nicht viel anders, so glaube ich jedenfalls, sollte man die beliebte Beschreibungen von dem finsteren Tunnel sehen, an dessen Ende das gleissende Licht auf die Sterbenden wartet. Die strahlende Wahrheit zu erkennen, das scheint das Ziel zu sein. Will man in dieser allumfassenden Wahrheit einen oder den Gott sehen, so nur zu, da mir dieses Bild deutlich besser gefallen würde, als ein barockhaft gestaltetes Bild eines gütig dreinblickenden Mannes mit Rauschebart.
Unglaublich oft versuchen sich Menschen der so beeindruckend modernen, westlichen Welt Gott jedoch genau so zu erklären. Das wir Hexen jetzt immer wieder und wieder des Aberglaubens und des Frevels an Gott beschuldigt werden, erscheint da in meinen Augen nicht nur abstrakt, sondern nahezu anmaßend.
Dennoch ist die Finsternis nicht zweifelsfrei bestimmbar, auch wenn es sich der modern denkende Mensch so sehr wünscht. So kann sie plötzlich eintreten, ganz individuell und unerwartet, als ein klassisches Werk der Hoffnungslosigkeit.
Eine alte und wirre Frau, so wie ich es offenbar bin, braucht denn diese Frau überhaupt noch Hoffnung für ihren kläglichen Rest an Leben?
Ich wische das Kondenswasser von der beschlagenen Scheibe beim Tisch, um in die Dunkelheit des Waldes vor dem Haus zu blicken.
Hoffnung, was ist schon Hoffnung?
Ist sie nicht mehr, als eine schöne Phantasie, der Traum von einem kleinen Schimmer Licht, in der vor uns klaffenden Dunkelheit?
Wenn man sich wie ein einfacher Gast auf dieser Welt fühlt, wie ein ungebetener Gast der Menschen, die um einen herum offenbar nur noch damit beschäftigt sind, möglichst leidensfrei zu sterben, dann ist es die Hoffnung, die einen am Leben erhält. Es gibt das Licht in der Dunkelheit, auch wenn es manchmal schwer zu entdecken ist. Doch wir selbst sind es, die dieses Licht am Brennen erhalten, auch wenn alles um uns herum noch so aussichtslos und finster erscheint.
Auch eine schlechte Münze hat zwei Seiten, wie auch alles im Leben der Dualismen liebenden Menschen offenbar mindestens zwei Seiten besitzt.
Doch in der Finsternis, da kann man diese beiden Seiten nicht mit seinen Augen sehen, und oftmals will man sie auch nicht sehen, da ohne einen kleinen Schimmer von Licht, jede noch so schöne Seite einfach nur noch schwarz erscheint.
Vertrocknetes Geäst, durch das der eisige Wind rauscht.
Ich liege völlig nackt und hilflos auf gefrorenem Boden.
Kälteschmerz besiegt das Zittern, um nur ein wenig Wärme.
Eine finstere Welt ist um mich. So muss es wohl sein.
Hastiges Geflüster reibt an meinen entzündeten Nerven.
Grobe Worte schlagen tosend gegen meine einsame Seele.
Nach Luft ringe ich und sauge die Kälte in mich hinein.
Meine Augen schmerzen sehr. Ich will sie nicht öffnen.
Keinen Blick möchte ich in die Trostlosigkeit wagen.
Wenn alles noch eine Ahnung ist, so kann nur ein
einziger Blick, den Schmerz der Gewissheit entfachen.
Kauernd liege ich auf hartem Boden, die Augen geschlossen.
Ich presse verbissen die Lider zusammen. Es ist so bitter kalt.
Keinen Blick will ich wagen, nicht auch nur einen einzigen.
Ich bleibe der Ahnung ergeben und trotze mit geschlossenen
Augen der Gewissheit. Eine finstere Welt ist um mich.
Da bin ich mir sicher.
Ich bin eine alte Frau, nicht mehr und nicht weniger...
Doch fast mein gesamtes Leben habe ich in völliger Finsternis verbracht.
Die Menschen rauben mir jegliches Licht und verseuchen mit Beharrlichkeit und Akribie meine Luft zum Atmen. Wie in dichtem Geäst in schwarzer Finsternis, so ecke ich an ihre spitzen Bemerkungen und scharfkantigen Worte, als wären sie kantiges und dorniges Geäst, auf meinem Weg durch den verworrenen Wald des Lebens.
Früher erschien mir alles trostlos und unendlich bitter.
Doch heute lebe ich mit der Dunkelheit um mich herum, wie ein fauler Hund in seinem alten Schlafkorb sein Leben verbringt.
Es ist nicht die schäbige Münze in meiner Hand, dessen zwei Seiten für mich von Wichtigkeit sind, sondern es ist die Münze der Erkenntnis über das Licht und die Finsternis, die mir so unendlich bedeutungsvoll erscheint.
So lebe ich mit der Finsternis an meiner Seite und mit der Gewissheit tief in mir, dass es zumindest noch eine andere Seite geben wird, auf die es wohl ankommt.
Es ist das Streben nach dem Licht der Erkenntnis.
Doch was wäre ich ohne die Finsternis?
Die Finsternis ist zu unrecht beschuldigt, mir und allen anderen Menschen schaden zu wollen, als wäre sie ein lebendiges und ausgehungertes Raubtier. Sie hat noch niemandem wirklich geschadet. Ohne sie gäbe es keinen Schutz und ohne sie, da wären wir uns nicht des Lichtes bewusst.
Die Finsternis selbst, sie schädigt niemals.
Wir selbst sind es und unsere Unfähigkeit im Umgang mit ihr ist es, die uns in der Finsternis stolpern, anstoßen und nicht sicher sehen lässt.
Letztlich ist es wohl eher so, dass wir uns nur vor dieser Begrenztheit fürchten und nicht vor der Dunkelheit an sich. Früher waren diese Ängste sicher durch Instinkte begründet, aber heute sind wir aufgeklärt und fortgeschritten, und wohin auch immer wir geschritten sind, wir fürchten uns in der Dunkelheit stets vor uns selbst am meisten.
So, ich gehe jetzt schlafen.
Ich bin es müde geworden, in die triste Dunkelheit vor der Hütte zu blicken und mich selbst darin zu sehen. Ich öffne wohl viel lieber meine alten Augen im Schlaf, um die wunderbaren und mit Licht überfluteten Sonnentäler meiner Jugend noch einmal erleben zu dürfen, bevor die Menschen ihren Schatten auf mein Gemüt geworfen haben.
Nein, ich hasse die Menschen nicht.
Ich mag sie eigentlich sogar ein wenig.
Sie besitzen einen ganz eigenen Charme, diese Menschen, wenn sie nur möglichst weit weg von mir bleiben und ich sie nur aus weiter Ferne betrachten muss.
Heute geht es einmal einfach so ins Bett. Ich wasche mich morgen, in aller Frühe. So müde bin ich geworden. Das Alter lässt mich schnell ermüden. Früher hätte ich nie gedacht, dass es so ist, aber heute erlebe ich es am eigenen Körper. Ich setze noch schnell meine alte Nachthaube auf, jenes gute Stück, von der die kleinen Motten einfach nicht lassen können und freue mich auf das nächtliche Wiedersehen mit alten Bekannten in einer anderen Welt.
Verzeiht mir, ich bin ein Mensch.
So flüstere ich mir selbst zu.
Ich bin schwach und habe keinen starken Willen.
So bin ich voller übler Fehler und nicht in der Lage zu erkennen, was ich alles mit meinen Worten zerstöre.
Mein Leben ist kurz, so muss ich mir nehmen, was ich möchte.
Ich bitte um Verzeihung bei den Kindern und Enkelkindern auf dieser leuchtend blauen Kugel im All, da ich ihre Welt ebenso zerstöre, wie ihre Eltern und Grosseltern.
Aber ich bin schwach und habe eben wirklich keinen starken Willen.
Nur ein Mensch bin ich, und daher darf ich alles das tun, als wäre ich ein kleines Kind, das immer wieder fällt und sich dabei seine dünnen Beinchen aufschürft.
Wie ein kleines Kind, so lehne ich Verantwortung für mein Handeln ab und schiebe es auf die anderen, schiebe es auf das Kollektiv, in dem die Schuld versinkt, wie in einem tiefen Sumpf. So lernt man es heute in den Schulen.
Sind einige Kinder in der Schulklasse nicht brav und folgsam, muß die ganze Klasse nachsitzen und leiden. Kann das Kollektiv nicht tragen, was zu tragen ist, so gibt es ein übermächtiges Wesen, einen Gott, eine Art Elternteil für das Kollektiv, das die Schuld bereitwillig trägt und uns wohlwollend über den Kopf streichelt, jedoch natürlich nur fiktiv, nur in unseren Gedanken, weil wir es uns wünschen. Das ist die Pflicht Gottes.
Was dann letztlich bleibt, das ist die reine Zerstörung und eine zerstörte Welt für unsere Kinder und Enkelkinder, selbst wenn wir uns für diesen Wahnsinn nicht mehr schuldig fühlen, da Gott uns doch wieder und wieder verziehen hat.
Alles wird gut.
So sind sie, die Menschen, und ich bin auch nur ein Mensch, wenn auch nur ein kläglicher Rest von Mensch. Doch ich bemühe mich stets, um nicht ganz so sehr sinnlose Pfade und suche immer wieder bewusst nach dem, was nicht alles zerstört und nach jenem, was mir selbst neu ist und auch nach der Schönheit unserer Mutter. Zeige mir, wer deine Eltern sind, und ich zeige dir, wer du bist.
Meinen Vater trage ich daher tief in mir in meinem Herzen, und meine Mutter ist überall, ist alles das, was mich am Leben erhält.
Auf diese einfache Art und Weise bin ich auch nicht mehr, als nur ein herumirrendes Kind, das sich nach der Liebe und der Geborgenheit seiner Mutter sehnt und jeden freien Augenblick nach Zuneigung und Zuwendung buhlt.
Wie dem auch sei, so liege ich jetzt hier in meinem Bett mit meiner alten Nachthaube auf dem grauen Kopf und denke über solche verrückten Dinge nach. Wäre es nicht besser, ich wäre so eine alte Frau, wie alle alten Frauen so sein sollen, eben verwirrt, unbeholfen und nur mit den Gedanken bei den eigenen Kindern und der eigenen Familie?
Doch alles dieses habe ich nicht.
Das einzige was ich habe, das sind meine Gedanken und meine Erfahrungen, meine Empfindungen und meine Sehnsucht, nach Hause zu kommen. Alles diese Dinge sind mir meine Kinder, und sie sind mir sehr an mein Herz gewachsen. Sicher wäre das wohl besser, würde ich mich alt fühlen, verwirrt und unbeholfen, würde ich eine Bilderbuchfamilie haben, so eine von dieser, an die es lohnt, zu denken und an Freunde, die es wert sind, sich Sorgen um sie zu machen.
Wie sehr sehne ich mich nach liebevoll gehauchten Worten, nach sanften, warmen Berührungen und glitzernden Freudentränen.
Wo ist sie geblieben, jene Ehrlichkeit, Mensch sein zu dürfen und dieses auch zu wollen?
Vor dem Sterben scheint sie erbärmlich verkümmert und hoffnungslos verdorrt zu sein. Wertvolle Augenblicke betäuben und das Leben verdrängen, das ist sie wohl, die allseits so grosszügig angewandte Torheit unserer Zeit.
Ich sehe in deine Gesicht.
Du lächelst mich an.
Doch sonst ist da nichts.
Deine Augen glänzen, wirken dennoch leer.
Lausche Deinen Worten voller Aufmerksamkeit, doch sie sagen nichts.
Wie die anderen sind, so bist auch du. Enttäuschung ist das und doch nicht wirklich.
So wende ich mich um, sehe in ein neues Gesicht, dann in ein weiteres - es werden viele Gesichter sein, bis sich die strahlende Sonne Lebens, der Nacht ergibt.
Jeden Tag das gleiche monotone Spiel.
Jeden Morgen ein neuer Beginn, als wäre dieses der Sinn meines Lebens.
Es ist der Sinn, in reizlose Gesichter zu blicken und auf leere Worte zu hören, stets unbekümmert der Bedeutungslosigkeit entgegen.
Sitze ich am Abend vor einer einfachen Kerze, so fasziniert mich ihr feines, schnörkelloses Flackern und ihr leises, raffiniertes Zischen mehr, als das Gemurmel der menschlichen Einheitsmassen vor dem Fenster und jenseits der Waldgrenze.
Ich habe mich damit abgefunden, wohl doch nur ein einfacher Gast auf dieser Welt zu sein. So rauscht die Zeit gestaltloser Gemeinsamkeit an mir vorbei.
Ich verstehe nicht, und sie verstehen nicht.
Ich schreibe hier über ganze Welten, in einander verwoben und doch so weit von einander getrennt.
Kein Verstehen, kein Interesse, Gleichgültigkeit und Hohn, so vieles ist es, was uns trennt. Bin ich denn kein Mensch und vielleicht doch eher ein Wesen, aus einer anderen Welt? Nein, wohl nur der Gast bei dem nebligen und kalten Graumantelfest einer sterbenden Rasse.
Ich möchte nicht mehr nur, ein ungebetener Gast sein, ein Gast, den man treten und verletzen kann, wie es einem beliebt. So will ich kein Gast mehr sein, dem man die Luft zum Atmen und das Wasser zum Trinken nicht gönnt, nur weil man eben ein wenig anders aussieht, anders denkt und sich entschlossen hat, anders zu leben. Ich möchte nach Hause gehen.
Endlich will ich an jenen Ort heimkehren, an dem ich frei bin, an dem die Luft frisch und sauber schmeckt, man jeden Atemzug lieben kann, die Lebewesen mich freudig und ohne Furcht anstrahlen und die Freude über das Leben in voller Blüte steht und allgegenwärtig ist. Ich will nicht mehr begründen müssen, warum ich bin, warum ich hier bin und warum ich so denke und fühle, wie ich denke und fühle. Ich will nicht mehr jeden Tag erklären müssen, warum ich meine Art zu Leben so sehr liebe, und warum ich so bin, wie ich bin.
So mag ich nicht mehr in keifende und missgünstige Gesichter blicken müssen, sondern mit mir selbst in Frieden leben können.
So würde ich endlich die Ruhe finden, um aufzubrechen, zu all jenen Orten und Zeiten, an denen ich lernen kann, das Sein zu verstehen.
Jeden Abend bettle und bitte ich dich sehnlichst, meine liebe Mutter, appelliere ich an deine Güte und Grossherzigkeit, mich von dem Auftrag und der Rolle zu entbinden, ein Gast bei den Menschen zu sein.
So fliessen Tränen in das Kissen, warm und salzig, und voller Trauer bin ich, allein in dieser Finsternis zu sein.
Dabei schweift mein Blick niemals von dem feinen Lichtstrahl ab, der die Dunkelheit in mir zerteilt und mich hoffen lässt.
So will ich ab heute nicht mehr die Hexe Angelos Wahrheitslieb sein, sondern eine alte und in sich gekehrte Hexenfrau mit dem Namen Mutterhoff Dunkeltrotz, ein offenbar tiefsinniges und seltsames Wesen aus dem Wald jenseits der Stadt.
Autor: © Alexander Rossa 2019
Zweiter Sammeltag der Apfelzeit 1995
Die Sonne verschwindet langsam hinter in den Bäumen und taucht den ganzen Wald in ein unwirkliches Licht.
Ein ruhiger und eher besinnlicher Tag neigt sich seinem Ende.
Ich bin müde.
Gerade will ich mich ein wenig vor das Haus setzen, um die Ruhe und die nachlassende Spannung in der Luft zu geniessen, da sehe ich einen Mann zwischen den Bäumen, auf meine kleine Hütte zu kommen.
Ich habe ihn noch nie hier gesehen und frage mich, was er wohl von mir will.
Als er schliesslich vor mir steht, biete ich ihm den Platz neben mir, auf dem kleinen Bänkchen an und frage ihn, was er von mir will oder ich vielleicht für ihn tun kann. Es ist schon Abend und eine einsame, alte Frau im Wald zu dieser Stunde besuchen zu wollen, das ist wohl wirklich sehr ungewöhnlich, und vielleicht sollte es sogar auch ein wenig Besorgnis erregend sein.
Aber ich bin die alte Hexe Ursula Freibank. Man sollte sich schon gut überlegen, ob man einer alten Hexe, wie ich eine bin, etwas antun möchte.
Der Mann erklärt mir dann in leisem Ton und fast so, als wolle er sicherstellen, dass ihm auch wirklich keiner zuhören kann, dass er etwas sehr Seltsames erlebt hat. Es waren, wie er mir erzählte, immer wieder kehrende Träume und richtige Visionen gewesen, die ihn jeden Abend wieder und wieder verfolgen. Er habe dann von den Nachbarn gehört, dass ich zwar eine etwas sonderliche Frau wäre, die sich mit allerlei übersinnlichen Dingen beschäftigen würde. Aber ein Gespräch, das könnte vielleicht von Nutzen für mich sein.
Ich muss leise kichern und blicke, fast schon ein wenig verschämt, auf den Boden. Aber ich bin auch sehr neugierig geworden, was dieser schüchterne Mann mir alles zu erzählen hat. Er wirkt immerhin ehrlich und ungewohnt höflich auf mich, auch wenn er zu einer so späten Stunde nicht bei einer Dame reifen Alters einkehren sollte.
So beginnt er schliesslich etwas scheu, mir seine Geschichte zu erzählen, noch während die ersten schwarzen Amselhähne im Wald, mit ihren leuchtend gelben Schnäbeln, irgendwo im Unterholz ihren extrem selbstbewussten Abendgesang anstimmen.
»Eigentlich führe ich ein ganz normales, fast schon spiessiges Leben.
Jeden Tag gehe ich meiner Arbeit nach, in einer ganz normalen Stadt, mit ganz normalen Menschen, habe eine liebe Frau und entzückende Kinder. Doch vor einiger Zeit hat sich mein Leben völlig verändert.
Ich denke nicht, dass ich irgendwie krank bin, gar verwirrt, oder dass ich inzwischen völlig durch drehe.
Dennoch hat sich mein Leben derart in ein bizarres Konstrukt verändert, dem ich völlig erlegen bin und das nicht mehr nur meine Persönlichkeit fordert, sondern mein ganzes Ich.
Die meisten Menschen haben eine persönliche Definition für "Leben" gefunden, eine mehr oder weniger für sie befriedigende Sichtweise, mit der sie relativ unbeschwert leben können. Doch was geschieht mit einem Menschen, dem seine Definition, durch das Leben selbst, vollkommen abhanden gekommen ist?
Niemals hätte ich auch nur im Traum daran gedacht, jemals in so eine Lage zu geraten.
Es scheint fast so, als würde man plötzlich nicht nur seine sichernde Erklärung des Lebens verlieren, sondern es würde alles in dieser Welt in Frage gestellt werden. Alles in ihr gehört schliesslich irgendwie zu meinem Leben, ob ich es möchte, oder auch nicht, und wenn ich keine für mich schlüssige Erklärung für das Leben habe, irgendetwas, mit dem ich mich persönlich zufrieden geben kann, was habe ich dann noch...? Was bleibt dann übrig?
Nicht sonderlich viel!
Man schwimmt viel mehr wie Treibgut umher, hüpft verwirrt auf den Wellen der Ereignisse, stets den Gezeiten des Schicksals ausgesetzt.
So begann damals alles mit einen Traum.
Ich schlief damals ein, und irgendwann begann ich zu träumen.
Jeder Mensch träumt. Das ist nur wenig unfassbar.
Das Träumen hält einen Menschen gesund und ist wohl nichts Ungewöhnliches.
Doch dieser Traum, er war ein wirklich ungewöhnlicher und seltsamer Traum.
Während meine Frau ruhig neben mir schlief, wurde ich immer mehr von diesem merkwürdigen Traum gefesselt. Es schien fast so, als würde ich mit jeder Bewegung tiefer in den Traum hinein gezogen werden. Ohne etwas gegen diese Bewegung unternehmen zu können und mit dem Wissen, immer tiefer und tiefer in eine Szenerie ein zu tauchen, von der ich glaube, dass sie aus dem Innersten heraus entstanden war, liess ich die Ereignisse über mich ergehen.
So traf ich Menschen, Personen mit richtig normalen Gesichtern und Stimmen, sah verschiedene Lichter, Häuser und Strassen, hörte in der Ferne einen Hund bellen, und alles schien so real und wirklich zu sein, als wäre ich tatsächlich dort und direkt vor Ort gewesen.
Es war kalt: Die Strassen schimmerten feucht, und ich sah einen alten Mann die Strasse in meine Richtung hinunter schlendern. Er hatte einen ziemlich dunklen Hut auf, an dessen Rändern sich ein wenig von seinem grauen Haar abzeichnete. Sein linkes Bein zog er etwas nach. In seiner rechten Hand trug er eine einfache Plastiktüte.
Als er einige Meter gegangen war, erschienen drei finstere Gestalten in einem Hauseingang. Es waren drei Männer Sie bauten sich drohend vor dem Mann auf.
Sie waren noch jung, wirkten aber ungewöhnlich kräftig und sprachen einige Worte mit dem Mann. Einer von ihnen zog plötzlich ein Messer und rammte es dem Alten, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, in den Bauch.
Ich schrie in diesem Traum laut auf, war entsetzt und rannte zu dem alten Mann, der inzwischen auf dem Boden lag. Die drei Männer flüchteten die Strasse entlang. Der verletzte Körper auf dem Boden, er zuckte, und man hörte ein Stöhnen. Es war ein Traum, ganz sicher war er das, doch die Gefühle in mir kochten hoch. Ich war verzweifelt und voller Schmerz, als wäre ich es gewesen, der durch das Messer verletzt worden war.
So kniete ich vor dem blutenden Mann, dessen Stöhnen immer schwächer wurde.
Das Blut hatte schon seinen ganzen Mantel durchtränkt. Als ich seine Hand nahm, war sie kalt und zitterte ein wenig. Immer wieder rief ich um Hilfe, aber es waren weit und breit keine Menschen mehr zu sehen. Niemand schien mich zu hören.
Ich streichelte dem alten Mann über das Gesicht, während das Zittern in seiner Hand langsam nachliess. Es war offensichtlich, daß er starb.
Doch plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ein seltsames Gefühl durchströmte meinen Körper, und ich sah die Finger einer Frau. Sofort drehte ich mich ein wenig zur Seite, um zu sehen, wer mich berührte. Ein Reflex.
Es war eine junge Frau mit Schulter langem, ganz dunklem Haar, seltsamen und auffällig weichen Gesichtszügen und grossen Augen, die mich entwaffnend liebevoll ansahen. Ich glaubte sofort, diese Frau schon lange zu kennen. Sie hatte eine schwarze Jacke an, die ihr ein wenig zu gross gewesen war, und ihr wirklich wunderschönes Gesicht, es war von der weiten Kapuze der Jacke umrahmt und wirkte sehr sinnlich auf mich.
»Es ist nicht schlimm. Sei nicht traurig.«, sprach sie tröstend zu mir, während sich ihre Hand ein wenig hob und ihren Finger mir sanft über die Wangen strichen.
Ich starrte sie gebannt an und es schien, als wäre ich völlig betäubt und nicht fähig, zu reagieren. Ein regelrechtes Feuerwerk der Gefühle war in mir entfacht. Erklären konnte ich mir das alles nicht. Noch immer war es nur ein Traum, oder doch nicht?
»Wa...wa..was?«, stammelte ich ihr zu.
Sie lächelte. Offenbar war sie von dieser eigentlich schrecklichen Szene völlig unbeeindruckt. Ich spürte die Ahnung in mir wachsen, dass diese Frau nicht so wirklich in meinen Traum hinein gehörte. Sie war zwar hier in diesem Traum und bei diesem Geschehen, aber sie schien ebenso nur ein Gast gewesen zu sein, so wie ich selbst auch. Fast war es mir so, als würde man eine Art Geistwesen in einem Traum sehen und seine Entität erfahren.
»Es ist alles so, wie es sein soll. Alles geht seinen Gang, hörst Du?«, versuchte sie mir zu versichern und wirkte dabei völlig sortiert und ruhig auf mich. Sie half mir dann vorsichtig auf die Beine, während ich meinen Blick nicht eine Sekunde von ihr lassen konnte. Sie erschien mir übermenschlich zu sein, ein seltsames Wesen, in der Gestalt einer jungen Frau. Sie beherrschte meinen Traum und mich völlig, da ich ihrem unwiderstehlichen Anblick vollkommen erlegen war. Zudem strahlte sie ständig eine faszinierende Güte und eine ganz eigene und seltsame Art von Liebe aus, die mich völlig paralysierte und ein zu hüllen schien.
Ich fuhr aus meinem Schlaf auf, war ganz aufgeregt und setze mich auf den Bettrand.
Was war mit mir geschehen? Was war das? Es war wohl nur ein Traum?
Nein, ganz sicher nicht.
Noch niemals in meinem ganzen Leben habe ich so intensiv geträumt.
Es schien mir wirklich so, als würde ich real und leibhaftig an diesem Ort gewesen sein.
Ebenso war dieses unglaubliche Wesen, diese junge Frau, auch dort gewesen.
Die Emotionen in mir kochten noch, ihre Liebe war noch immer tief in mir zu spüren, obwohl ich bereits völlig erwacht war. Dieser Traum hatte mich sehr beeindruckt.
Dann schlich ich mich in das Wohnzimmer und setzte mich auf unser altes Sofa.
Ganz aufgeregt war ich. Mitten in der Nacht versuchte ich den Traum und das in ihm Erlebte zu ordnen, eine Erklärung für mich selbst zu finden, um schliesslich weiter schlafen zu können. So plante ich es, weil es so bei Täumen immer lief. Am nächsten Tag wartete immerhin meine Arbeit auf mich. So entschloss ich vorerst jedenfalls, dieses Erlebnis als einen ungewöhnlichen Traum zu betrachten und ging dann, nach einer Weile der Beruhigung, wieder in das Bett, um zu schlafen.
Am nächsten Morgen erzählte ich der Familie nichts von meinem bizarren Erlebnis. Doch war ich noch mindestens drei Tage lang so sehr beeindruckt von dem Erlebnis, dass es mir schwer fiel, am Abend ein zu schlafen. Das Erlebte liess mir keine Ruhe. So sehr berührt hatte mich diese jungen Frau, dieses wirklich seltsame und beeindruckende Wesen aus einer Welt der Unwirklichkeit.
Doch bereits zwei Wochen später ereignete sich wieder so ein Traum.
Eigentlich war dieser neue Traum sogar noch beeindruckender, als mein erster Traum dieser Art, da er mich noch tiefer in das Geschehen und noch weiter aus meinem schlichten Alltag entführte:
Überall um mich herum, da litten die Menschen. Ich fand mich urplötzlich an diesem Ort wieder. Es schien ein Krieg zu toben. Weit verstreut lagen verwundete Menschen auf den Strassen.
Die ganze Umgebung, sie erschien mir seltsam fremd. Sie war ganz anders, als meine gewohnte Umgebung, beispielsweise eine normalen Stadt in Deutschland.
Die Menschen hasteten auf den Straßen umher, und sie hatten Angst. In der Ferne waren Explosionen zu hören, und laute Schreie zerschnitten die Luft. Menschen starben überall. Ich war fassungslos. Dieser extreme und rasche Wechsel, ausgehend von meinem ruhigen Leben, bis in diese extreme Situation hinein, er war enorm für mich. Ich spürte mein Herz bis hinauf, in den Hals hinein, klopfen. Ein unangenehmes Gefühl.
So stand ich mitten auf der Strasse und blickte mich gehetzt und desorientiert um.
Dann hörte ich Schüsse, sah einige Menschen zu Boden fallen, und ich spürte plötzlich selbst einen deutlichen Ruck in meinem Bein, der mich fast stürzen liess.
Offenbar war ich getroffen und sah es auch. Ich war tatsächlich getroffen, aber spürte unerwartet nicht mehr, als nur eine gewisse, unangenehme Taubheit im Bein. Obwohl ich keinen Schmerz bemerkte, lähmte mich ein rasch aufsteigendes und heftiges Gefühl von Traurigkeit und grosser Verzweiflung.
Es war schrecklich.
Ich war hilflos, obwohl ich mich in einem Traum wusste.
So spürte ich deutlich die Umgebung und den anwesenden Krieg.
Ich sah Bilder mit meinen Augen und roch die Brände, das verbrannte Fleisch.
Aber mein tiefstes Innerstes, es arbeitete unter Hochdruck, schien die Situation immer wieder und wieder zu prüfen.
Schliesslich bewegte ich mich von der Strasse fort, in einen Hausflur hinein.
Mein Körper fühlte sich bleiern und richtig schwer an, mein verwundetes Bein zog ich nach, Jedoch schmerzte es nicht. Ein widerliches Gefühl.
So liess ich mich schliesslich stöhnend auf den knarrenden Stufen im Hausflur nieder.
Mein Stöhnen konnte ich selbst deutlich hören, obwohl ich meinen Kehlkopf dabei nicht spürte. Meine Verzweiflung wurde deutlich durch meine Angst gespeist, die sich langsam in mir aufbaute. Ein Traum ohne Schmerzen, jedoch voller Angst und Verzweiflung. Ich wollte nur noch weg. Nur wusste ich zwar nicht viel von dem Traum, in dem ich gefangen zu sein schien, ersehnte mir aber die Möglichkeit, dieser ganzen Situation zu entfliehen zu können, da es doch nur ein Traum war. Dessen war ich mir bewusst. Ich litt und wünschte mir sehnlichst, doch endlich aufzuwachen.
Ein leises Knarren war im Haus zu hören.
Dann vernahm ich Schritte auf Treppe, die sich von oben näherten.
Über mir am Treppenabsatz, dort erschien eine Frau.
Sie war mittleren Alters, trug ziemlich kurze Haare, hatte volle, sinnliche Lippen und dazu ein ziemlich hübsches Gesicht. Zudem hatte sie wieder diese unglaublich liebevolle und freundliche Anmutung.
Konnte das sein?
Während draussen die Menschen um Hilfe schrien und die Schüsse immer wieder bedrohlich krachten, fesselte jetzt diese Frau meinen Verstand. Sie war ganz ähnlich und vergleichbar wie jene Frau, die ich in meinem Traum zuvor erlebt hatte, auf dieser Strasse, bei dem sterbenden, alten Mann. Diese junge Frau, sie strahlte eine unglaubliche Ruhe, Güte und bedingungslose Liebe aus. Ihre Augen waren klar und voller Freude. Wieder war ich davon überzeugt, dass sie diesen üblen Traum offenbar wohl selbst mehr beherrschte, als ein Teil von ihm gewesen war.
Während sie die hölzerne Treppe zu mir hinunter schritt, meinte sie: »Hallo, Du brauchst Dich nicht fürchten. Alles ist gut, verstehst Du? Fürchte Dich nicht!«
Wie schon in dem Traum zuvor, so starrte ich sie einfach nur an. All meine Angst und Verzweiflung, sie waren augenblicklich vergessen, als wären sie einfach aus gelöscht. Mir war plötzlich alles egal, und ich glaubte dieser seltsamen Kreatur bedingungslos. Nur noch dieses unglaubliche Gefühl der Zuneigung, es überschwemmte mein Innerstes und beschäftigte meinen Verstand. Ein atemberaubendes Erlebnis, selbst in einem Traum, wenn es denn überhaupt ein Traum war, in dem ich verwundet und angeschossen auf der Treppe kauerte.
Sie nahm meine Hand und führte mich auf die Strasse, die zwar noch immer grau und schmutzig wirkte, aber inzwischen völlig Menschen leer war. Es war plötzlich kein Ton zu hören, völlige Stille. Nur noch das entfernte Zwitschern eines einsamen Vogels und das sanfte Rauschen des Windes waren zu hören, der sich seinen Weg zwischen den Häuserschluchten suchte.
Sie war kein Mensch.
Da war ich mir nun absolut sicher.
Wie ein kleiner Junge stapfte ich, schräg versetzt zu ihr und gut gläubig, wie ein alter Hund, hinter ihr her.
Ich war ihr völlig erlegen.
Ein Mensch und Krone der Schöpfung, wie wir Menschen uns doch heute so gerne selbst sehen, war ich in diesem Augenblick wohl eher nicht mehr. In der Gegenwart dieses Wesens, da war ich nur noch unter entwickelt, schwach und hilflos. Aber es gab auch keinen Grund zur Furcht für mich. Alles schien verziehen, meine Fehler unwichtig und meine Unsicherheit unbegründet.
»Was geschieht, ist völlig ohne Bedeutung. Alles ist gut, auch wenn es nicht so erscheint.«
Ihre ruhigen und klaren Worte drangen tief in meinen Geist. Sie wirkten fast schon hypnotisierend auf mich ein. Es war eine klare Botschaft.
Sie drehte sich zu mir um und lächelte wieder, während sie mit ihrer anderen Hand, auf die untergehende Sonne zeigte, die sich langsam über den flacheren Häusern abbildete.
Wir setzten uns gemeinsam auf die Strasse und betrachteten das Schauspiel.
Ich erwachte ganz plötzlich, wieder mit einem Aufschrei.
Die Bilder waren verschwunden.
Ich lag in meinem Bett, und meine arme Frau, sie war durch den Aufschrei erwacht. Sie blickte mich mit müden Augen an. Daraufhin erklärte ich ihr mein Erlebnis. Ich hatte den Eindruck, sie lachte innerlich über mich, oder noch schlimmer, sie würde mich womöglich sogar süss finden.
Ich fühlte mich wie der Trottel, der einen schlimmen Traum hatte.
Die ganze Nacht blieb ich wach.
Ganz aufgeregt war ich. Beide Träume beschäftigten mich, und ich konnte einfach keine rationale Erklärung für sie finden.
Es waren keine Träume.Träume waren ganz anders.
Was waren das für seltsame Wesen?
Waren sie nur ein Produkt meiner Phantasie, womöglich nur ein Hirngespinst?
Aber alles schien für mich unglaublich real gewesen zu sein. Noch immer hatte ich den Brandgeruch in der Nase, und ich hätte von den beiden Frauen ein Portrait malen können, so gut erinnerte ich mich an ihr hübsches Aussehen und ihre beeindruckende Ausstrahlung.
In den nächsten Tagen konnte ich diese beiden Traumerlebnisse nicht so richtig von mir abschütteln und für mich selbst, befriedigend verarbeiten. Sie beschäftigten mich unentwegt. Auf meiner Arbeit konnte ich mich auch nicht mehr richtig konzentrieren. Stiess ich auf andere Menschen, so war ich gereizt, wirkte stets nervös.
Immer wieder versuchte ich das Gefühl dieser bedingungslosen Liebe in mir, zu reproduzieren, hatte eine regelrechte Sehnsucht danach. Fast schon schien sich eine Sucht danach aus zu prägen. Das Leben um mich herum, es erdrückte mich nahezu und war fast ebenso grau wie jene Welt in meinem Traum, wenn es denn nur ein Traum gewesen war.
Allerdings diese Frauen in meiner Erinnerung, sie schienen mir noch immer hell, bunt und freundlich zu sein. So gewöhnte ich mir an, jeden Abend mit einer gewissen inneren Theatralik Schlafen zu gehen, mit einem Gefühlsgemisch aus Furcht und Vorfreude darauf, womöglich wieder auf eine diese bizarren Traumwelten zu stossen.
Nach einigen Tagen begegnete ich diesen Wesen in der Tat erneut.
Es waren gleich mehrere Träume, einer tiefer und entfernter, als der andere, manche Situationen schrecklich, eingie entsprachen normalen Alltagssituationen.
Faszinierend war es, wie sehr sich meine Wahrnehmung in diesen Träumen veränderte, sich die Welten immer detaillierter zeigten und ich offenbar lernte, sie besser wahr zu nehmen.
Auch traf ich immer wieder auf diese seltsamen Kreaturen. Sehr oft erschienen sie mir weiblich, als wunderschöne Frauen, deren Schönheit nur noch, durch ihre Ausstrahlung raffiniert wurde. Manchmal waren auch Männer dabei, wirkten wie Bekannte und Freunde dieser Frauen, strahlen aber ebenso dieses Gefühl der Dominanz und Freundlichkeit aus, wie es die Frauen auch schon taten. Mit der Anzahl dieser Erlebnisse fiel es mir immer schwerer, diese Träume, als reine Träume zu akzeptieren. Ich verlor das natürliche Verlangen, aus ihnen zu erwachen.
Jeden Augenblick meiner Freizeit versuchte ich zu schlafen. Ich wollte wieder auf diese Wesen treffen, hastete ihrer aufrichtigen Liebe entgegen, beinahe auf der Flucht vor dem Leben in der wachen Welt. Mit der Zeit schienen die Grenzen zwischen Träumen und dem Wachsein zu verschwimmen, und die Welten dieser seltsamen Träume, sie schienen mir ebenso bedeutungsvoll zu sein wie jene, in meinem wirklichen, wachen Leben. Doch was war das wirkliche Leben?
Meine Frau war zutiefst besorgt um mich, da ich mich sehr veränderte.
Ich sprach von diesen Wesen, die sie zuerst noch toleriert hatte.
Später bekam sie Angst und meinte, dass sie mir dorthin, an diese Orte, einfach nicht folgen konnte. Sie hatte Angst um mich, um sich und um unser eingespieltes Leben. Vielleicht fürchtete sie auch nur vor Veränderungen, so dass sie mir wohl auch nicht folgen wollte. Es schien sich für Aussenstehende so dar zu stellen, als würde ich verrückt werden. Psychologen würden sicher von einer Art Schizophrenie sprechen.
Doch alle diese Menschen, sie konnten mich nicht erreichen. Die Wissenschaft war für mich zu einer reinen Farce verkommen. Ihr gesamtes Wissen basierte auf dem, was ihre Anhänger gelesen oder gehört hatten, was seit Jahrhunderten weiter gegeben wurde, was wieder andere Wissenschaftler vor ihnen, ebenso nur gehört haben. Alles war nur in eine logische Folge gebracht, als funktionale Kausalketten erklärt. So fanden sie alte Knochen, bauten grosse Maschinen um diese Knochen herum auf, und die Maschine sagte ihnen dann: »Das ist alt«.
Doch es lagen immerhin tausende und Millionen von Jahren zwischen der Zeit ihrer wissenschaftlichen Schlüsse und dem, was früher wirklich geschehen war. Dennoch besassen sie die unglaubliche Überheblichkeit, ihre Schlüsse zur allgemeingültigen Wahrheit zu ernennen.
Letztlich wussten sie auch nicht mehr und nicht weniger, als jeder einzelne Mensch von uns auch wusste. Sie wussten nur das, was sie selbst wirklich erlebt hatten. Fingen sie an, diese Erfahrung zu interpretieren, so entfernten sie sich bereits damit, auch schon wieder von ihr. Wissenschaft war der Entschluss, gemeinsam an etwas zu glauben, obwohl es nur eine endliche Anzahl von Belegen für dessen Inhalt gab. Zu gross war die Diskrepanz zwischen Körper und Geist.
So ordneten die Psychologen einen Menschen, der an seine Traumerfahrungen glaubte, als krank ein. Das taten sie, während sie jedoch andere Menschen, die an einen nicht bewiesenen, allmächtigen und unsterblichen Gott glaubten, dem sie jedoch nie selbst begegnet waren und nach dem sie ihr ganzes Leben ausrichteten, als gesunde, integere und spirituell intelligente Menschen akzeptierten. Was also sollte die ehrenwerte Wissenschaft denn nichts anderes sein, als nur eine einfache Farce?
Ich jedoch, ich erlebte alle diese ganzen Dinge. Sie waren ein Teil meiner Realität, und meine Realität war nicht besser und schlechter, als jene anderer Menschen. Letztlich war dieser ganze Aktionismus völlig sinnlos, da diese Träume ohnehin immer wieder von ganz alleine kamen. Ich konnte und wollte es nicht ändern. Mir wurde klar, dass es unbedingt noch weitere Dimensionen und parallele Welten geben musste. In diesen Welten konnte man auf eine merkwürdige Art und Weise zu Gast sein. Es gab dort sie, diese seltsamen Wesen, von denen die Menschen bereits seit Ewigkeiten und in nahezu allen Kulturen berichten und ihnen die verschiedensten Namen gegeben hatten.
Schon das reine Wissen um ihre Existenz, es relativierte bei mir alles Körperliche und nahm die Angst vor Vergänglichkeit und Tod. Immer wieder begegnete ich ihnen in den entlegensten Winkeln und Erkern meiner nächtlichen Visionen. Doch schien es, dass sie auf irgendeine Weise stets bei mir waren. Selbst wenn ich wach war und meinem alten Leben folgte, meine Aufgaben pflichtgemäss wahrnahm, so war ich mir sicher, dass sie in der aktuellen Szenerie und meinem Leben hätten jederzeit erscheinen können, wenn sie es denn gewollt hätten. Stets rechnete ich mit ihnen, wenn die Tür sich öffnete, ich berührt wurde oder mir eine freundliche Stimme auf der Strasse begegnete. Doch dem nicht genug. So geschah es, das sie immer mehr den Kontakt suchten.
Ich traf einen von ihnen in einer recht friedlich verlaufenden Vision. Es war ein junger Mann, der mich mit einer Frau zusammen führte.
Sie hatte dunkle Haare, Sommersprossen und braune Augen.
Aber sie selbst, sie war keines dieser seltsamen Wesen. Sie war eindeutig ein Teil dieser Vision, und sie stand auch nicht über dem Geschehen, wie es diese Wesen taten. Sie hatte aber dennoch die Fähigkeit, mich viel intensiver wahr zu nehmen, als es die anderen Menschen in diesen Traumwelten generell taten, was mir schon recht ungewöhnlich vor kam.
Dieser junge Mann, er war stets bei ihr, und beide folgten mir.
Letztlich sprachen wir mit einander und es schien, als würde ich diese junge Frau schon seit Ewigkeiten kennen.
Richtig vertraut war sie mir, so wie eine alte Freundin.
Sie schien jedoch nicht zu wissen, dass meine Zeit in dieser Vision begrenzt war. Die Frau gab sich ausgelassen und unbekümmert. So tollten wir in dieser nächtlichen Stadt umher, zwischen den bunten Lichtern und den etwas teilnahmslos wirkenden Menschen. Ich empfand deutlich mehr, als nur eine reine Zuneigung zu dieser Frau. Der junge Mann war weiterhin stets bei uns, wie eine Art Aufpasser. Er störte aber nicht, da er uns beide gleichermassen, mit seiner unglaublich positiven Ausstrahlung beeindruckte.
Das war ganz offensichtlich. Doch von Ablehnung und Skepsis war in mir nichts zu spüren. Vielmehr schien er uns beiden, wie ein lieber Freund oder ein Beschützer gewesen zu sein, ein Wesen, das über uns wacht. Als ich schliesslich recht deutlich spürte, dass diese Vision bald enden würde, dieser Traum zu seinem Ende kommen sollte, löste ich die junge Frau ein wenig aus dem Geschehen heraus und versuchte ihr die Situation zu erklären. Sie erschien mir plötzlich sehr ungerecht und richtig schrecklich.
Sie bekam Tränen in ihre Augen und verbarg ihr Gesicht, um zu weinen.
Es zerbrach mir das Herz.
Ich konnte sie nur hilflos ansehen.
Dann war ich plötzlich völlig perplex, dachte an meine Frau und meine Kinder, sah sie in Gefühlen betrogen. Doch konnte ich mich der Liebe zu dieser Frau, die weinend vor mir stand, nicht erwehren. Diese Frau war mir vertraut, eine seltsame Wesensverwandtschaft, die ich mir nicht erklären konnte. Es waren schreckliche Augenblicke in einer ganz anderen Welt.
Doch noch bevor ich sie tröstend in den Arm nehmen konnte, erwachte ich aus dieser Vision. Ich schreckte hoch, war hellwach und schrie tonlos und verzweifelt in mich hinein: »Ich liebe Dich! Hörst Du, ich liebe Dich!«
Gehetzt und reichlich verwirrt sah ich mich um, sah meine Frau, die fest neben mir schlief und wollte wieder zurück in meinen Traum. So konzentrierte ich mich intensiv auf die verloren gegangene Szene, auf sie, diese Frau, sah sie noch immer weinend vor mir und schrie immer wieder in meinen noch Schlaf trunkenen Geist hinein, dass ich sie lieben würde. Ich flehte und bettelte, wollte wieder bei ihr sein, bis ich dann wieder einschlief. Es war ein sehr schmerzhaftes, reales Stück Unwirklichkeit.
Ich träumte in dieser Nacht nicht mehr.
Diese Frau schien für mich verloren.
Sie war so unglaublich wirklich.
Es lag nicht in meiner Macht, sie wieder zu sehen.
Sie zu suchen schien mir, nach den Sternen zu greifen.
Ihr weinendes Gesicht, ich konnte es nicht vergessen.
Es fiel mir sehr schwer, meine Gefühle vor meiner Frau zu verbergen.
Hatte ich sie betrogen?
Ich liebte sie.
Aber ich empfand auch eine starke Liebe zu dieser Frau aus der Vision.
Konnte man zwei Frauen in zwei parallelen Welten zugleich lieben?
Ich war mir nicht einmal sicher, ob es eine andere Welt war.
Doch nur ein Traum, das war er auch nicht.
War diese Form der Liebe tatsächlich möglich, so waren wir dazu fähig, in der rechnerisch einen Hälfte der Unendlichkeit, jeweils verschiedene Menschen gleichzeitig zu lieben. Dabei ist eine Hälfte der Unendlichkeit selbst für sich, auch immer unendlich.
Diese ganzen Erlebnisse haben mein Leben geprägt. Nicht ganz sicher bin ich mir über ihre Bedeutung. Doch meine ich, dass uns diese Engel artigen Wesen etwas mitzuteilen haben, uns etwas lehren wollen. Sie deuten an, dass sich alles Endliche auflöst, wenn man lernt, ein wenig mehr Unendlichkeit zu begreifen. In unendlich vielen, parallelen Welten, unendlich viel aufrichtig und ehrlich zu lieben scheint real. Die Trauer um den Verlust von etwas Endlichem hingegen, sie scheint nicht real und eine Illusion zu sein.
So fühle ich nach diesen Erlebnissen. Fangen wir an, diesen seltsamen Wesen zu zu hören und ihnen zu folgen, dann sind sie offenbar plötzlich für uns da. Fast wie bei den spektakulären Experimenten zur Quantenmechanik, deren Ergebnisse abhängig vom Bewusstsein der Beobachter sind.
Noch heute habe ich diese Träume. Sie werden immer stärker und reichen immer tiefer und weiter in ein unwirkliches Universum. Jedoch habe ich gelernt, ihnen nur einen Teil meines körperlichen und scheinbar endlichen Lebens zur Verfügung zu stellen, auch wenn es manchmal schwer fällt. Der andere Teil gehört den Menschen, die mir in dieser Dimension und Welt etwas bedeuten, die ich hier liebe und die mich hier brauchen.
So stehe ich erst am Anfang meiner Veränderung, und das habe ich für mich akzeptiert. Allerdings weiss ich heute bereits sicher, dass es neben dieser Realität, offenbar unendlich weitere Realitäten gibt, Dimensionen, parallele Welten, die sich alle irgendwie unterscheiden und die mit und ohne uns sind und sein können und zwischen denen einige Wesen offenbar reisen und deren Bewohner dominieren können. Doch die genaue Definition für Leben, die ist mir abhanden gekommen, ist so zu sagen auf der Strecke geblieben und erscheint mir auch nicht mehr ganz so sehr bedeutungsvoll, wie früher einmal. Das lockert meinen Platz in dieser Dimension erheblich und lässt mich wirr und torhaft erscheinen. Doch im Gegensatz zu früher, da bin ich mir meiner Alternativen bewusst, und in mir schwelt noch immer die Hoffnung, diese Frau irgendwann einmal wieder zu sehen.
Er beendet seine Geschichte. Wir schweigen gemeinsam eine Weile.
Seine Geschichte ist wahr.
Ich weiss das genau, und ich sage es ihm.
Nichts ist wohl wichtiger als die Gewissheit, nicht hoffnungslos alleine mit solchen Erfahrungen zu stehen, um dann schliesslich an seinem eigenen Verstand zu zweifeln.
Als Hexe Ursula Freibank sind mir seine Erlebnisse nicht fremd, zumal ich sie schon selbst, nur eben in anderer Form und Umgebung, kennen gelernt habe.
Viele Menschen nennen diese Wesen Engel, gute Geister, Boten der Götter oder wie auch immer. Doch sie meinen alle das gleiche Phänomen. Sie versuchen sich damit ein oder mehrere derartige Erlebnisse zu erklären, die sie hatten und die sie sehr beeindruckten. Solche Erlebnisse hatte auch dieser Mann, und ich hatte sie ebenfalls. Wir sind also tatsächlich Leidensgenossen.
Was soll ich ihm anderes sagen, als das es diese Wesen und diese Erlebnisse wirklich gibt, auch wenn wir sie uns nicht unmittelbar erklären können. Manchen Menschen offenbart sich die Zwischenwelt eben leichter, als anderen Menschen, und sie erscheint einigen Menschen sehr bedrohlich, anderen jedoch sogar fast paradiesisch. So ist das mit dem Bewusstsein der Menschen eben.
Ich stehe auf, hole mir einen Schluck warmen Kräutertee und biete ihm auch einen Becher voll davon an.
»Ist alles aus selbst gesammelten Kräutern, und man kann nie so genau wissen, ob man diesen Becher Tee überlebt. Ich bin eben nicht mehr die Jüngste, und da hat man sich beim Sammeln schnell einmal vergriffen. Also geniesse ihn, guter Mann. Es könnte dein letzter sein«, meine ich zu ihm und kann mir ein leises Kichern nicht verkneifen, als ich den Becher mit dem dampfenden Inhalt, vor dem Mann abstellte. »Warum kommst du mit deiner Geschichte zu mir und gehst damit nicht zu deinem Gemeindepfarrer«, frage ich ihn.
Er reagiert zuerst nicht, sondern nickt nur schwach mit seinem Kopf, während er in den Becher auf den Tee starrt. Doch dann erklärt er mir, dass er schon bei seinem Pfarrer war, sich sogar vorher einen Termin bei ihm geben liess.
Der Pfarrer sprach nur von einer Prüfung Gottes und von dem Bösen, das ihn in Versuchung führen wollte, eben über alle diese Dinge, die ein Christ wohl von einem Pfarrer erwartete, zu hören.
Doch der Mann erklärt auch, dass diese alten Geschichten ihm nicht wirklich viel bedeuten würden. Reumütig meint er zudem, zwar sein ganzes Leben lang fleissig Kirchensteuer gezahlt zu haben, auch schon mehrfach in der Kirche beim Gottesdienst gewesen zu sein, aber alles das, es hatte ihm nie wirklich geholfen und half ihm auch bei seinen aktuellen Visionen nicht sehr spürbar weiter.
Daher sitzt er nun hier und hofft, von mir nicht einfach abgewiesen zu werden. Der Pfarrer hatte ihn vor mir gewarnt. Aber auch wenn der Pfarrer ihn in Zukunft meiden wird, so hat er den Weg zu mir, einer alten Hexe, gewählt, um mehr über diese Visionen zu erfahren.
Ich blicke ihn an und meine dann etwas trocken und ein wenig zynisch zu ihm, dass es nicht gerade fein und von guter Kinderstube war, mich als alte Hexe zu bezeichnen. Die Weisheit und Lebensart anderer Menschen nicht zu verstehen und als lächerlich ab zu tun, das ist schon schlimm genug. Jedoch das alte Symbol der Hexe als ein Schimpfwort zu verunglimpfen, das ist als Übel aus den Köpfen der Menschen wohl nicht mehr heraus zu bekommen.
Dabei ist es heute doch ganz gross in Mode gekommen, eine Hexe zu sein, nach möglichst skurrilen, esoterischen Prinzipien zu leben, einen eigenen Kräutergarten sein Eigen nennen zu können und sich ein Menü aus den verschiedensten heidnischen Glauben zurecht zu legen, nur um sich von den anderen, zumeist als langweilig und schnöde empfundenen Menschen, ab zu grenzen.
Sozial schwierige Menschen ziehen sich gerne die Hexerei als Gewand an, um ihre Andersartigkeit damit zu symbolisieren und zu begründen. Dabei fehlt ihnen allen das grundlegende Verständnis, dass man eigentlich nicht anders sein muss, um eine Hexe zu sein. Ein Mensch zu sein, der in seinem Leben den alten Weg beschreitet, steht nicht gleich mit der Hexerei im Bunde. Auch sind die Hexen des Mittelalters eigentlich und ganz genau genommen, eigentlich keine Hexen gewesen, obwohl man sie wegen Hexerei, oft leider auch im Namen der Kirche, massenhaft gequält und ermordet hatte.
Sie waren zumeist Frauen, aber auch nicht wenige von ihnen Männer, die einfach nur eine andere Art hatten, ihr Leben zu leben. Sie waren Menschen, die dem alten Weg folgten, den es aus Sicht der Kirche, aus zu rotten und weg zu radieren galt.
Später spielten bei diesen kriminellen Machenschaften der Ankläger noch andere Macht erhaltende Gründe eine nicht unbedeutende Rolle. Aber Hexen, nein, richtige Hexen waren sie alle wohl eher nicht.
Im Prinzip kann jeder Mensch eine Hexe sein, ein Dämon zwischen den Welten, eben jener Dämon, der als Hagzissa auf dem Zaun zwischen den Welten ausharrt. Die Anlage dazu hast du, habe ich, hat eben jeder Mensch. Es stellt sich zuerst nur die Frage, was den erwähnten Dämon zwischen den Welten, zu einem Dämon werden lässt?
Es ist eigentlich nur das Begreifen von Wahrheiten.
Lebt ein Mensch zwischen den Welten, so verändert er sich, da er durch dieses Leben Erfahrungen durchlebt und sammelt, die andere Menschen nicht ihr Eigen nennen können. Diese Erfahrungen lassen ihn früher oder später, als übersinnlich und übermenschlich, womöglich sogar, wie ein Dämon oder bedrohlichen Hexenmeister erscheinen.
Die Menschen begreifen seine Art zu leben und seine Erfahrungen nicht. Erkenntnisse und gelebten Inhalte von ihm, sie kommen den Menschen wie Magie und unheimlicher Spuk vor.
Doch er ist und bleibt ein Mensch, auch wenn er sich sehr sicher in einem Terrain bewegen kann, das andere Menschen eventuell maximal nur in Schemen erahnen können. Jeder Mensch wählt sich seinen Weg selbst. Zieht es ein Mensch vor, sich in jene scheinbaren Gefilde der Zwischenwelt zu begeben, um sich weiter zu entwickeln und von ausserhalb des Kreisen in den Kreis zu ziehen, was ihm beliebt, so ist er deshalb noch lange kein Dämon oder eventuell nur psychisch krank.
Du wirst dir sicher die Frage stellen, warum ich dir das alles erzähle. Das hat einen verdammt guten Grund und hängt mit deiner eigenwilligen Geschichte zusammen. Du selbst hast dich mit deinen Visionen und dem Vertrauen zu diesen Wesen, die ich selbst für mich »Angelos« zu nennen pflege, auf eben jenes scheinbar unsichere Terrain begeben, das dich von den anderen Menschen unterscheidet. Es sind die verschiedenen Erfahrungen, die uns von den anderen Menschen trennen. Sie verändern und entwickeln dich. Doch eigentlich bleibst du immer nur ein Mensch mit Erfahrungen.
Letztlich ist es ganz alleine deine eigene Entscheidung, ob du diesen Weg der besonderen Erfahrungen und Wahrheiten weiter verfolgen willst oder ihn eben nicht verfolgen möchtest. Spürst du instinktiv für dich, das dieser Pfad dir etwas bringt und wichtig für dich ist und du dir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen kannst, dann solltest du ihm auch weiter folgen. Aber dann wirst du dich immer weiter von deinen Mitmenschen entfernen, da sie dich mit der Zeit nicht mehr verstehen werden und zunehmender Tendenz auch nicht verstehen wollen. Sie ziehen ein Leben ohne diese Erfahrungen vor, und das ist ihr gutes Recht. Ihnen deine Erfahrungen und dein Wissen auf zwingen zu wollen, das wäre völlig falsch. Sie müssen immer selbst wollen und zu dir kommen, so wie auch du, zu mir gekommen bist.
Lehnst du jedoch diesen andersartigen Pfad ab und willst mit den anderen Menschen vorzugsweise ohne diese Erfahrungen und Erkenntnisse leben, so muss dieser Entschluss immer ganz tief aus deinem Herzen kommen. In diesen Dingen wird es dir nicht helfen, sich selbst üppig zu belügen, da es in der Zwischenwelt keine Lügen und üble Mogelpackungen gibt. Du musst einen ehrlichen und für dich selbst völlig reinen Entschluss fassen, und er wird dann auch von ganz alleine und unverzüglich in Erfüllung gehen.
Jedoch in meinem ganzen Leben habe ich noch niemals erlebt, dass sich die Angelos auch jenen Menschen zeigen, die diesen Entschluss nicht schon längst für sich gefällt haben, auch wenn sie noch so überrascht und verwundert auftreten mögen. Diese Wesen sind uns so weit überlegen und übersinnlich entwickelt, dass sie sich niemals unbedacht zeigen würden und wohl erst recht nicht verschiedene Pfade zu den Wahrheiten lehren, so wie sie es bei dir in deinen Visionen getan haben.
Den Angelos ist sehr daran gelegen, uns Menschen Wahrheiten begreiflich zu machen. Wir sind für sie fast so etwas, wie ihre Kinder, denen sie bei ihrer Entwicklung behutsam helfen wollen, in zwischenweltliche Gefilde aufzusteigen und diese auch zu verstehen.
Ihr Ziel ist es offenbar, die derzeitige körperliche, wie auch intellektuelle Begrenztheit der Menschen zu überwinden, um ihnen Erlebnisse zu ermöglichen, von denen sie heute nicht einmal zu träumen wagen.
Nur finden die Angelos in unserer jetzigen Zeit bei den Menschen zumeist nur alte Frauen, die gewillt sind, ihnen überhaupt zu zu hören und zu zu sehen, was sie uns mitzuteilen haben. Oder es ist nur eine alte Hexe, deren Name sich ihnen zuwendet, sich in jene scheinbare Unwirklichkeit verirrt, um als Hexe "Angelos Wahrheitslieb“ wieder geboren zu werden. Es ist das Leben, das mich zu dem formt, was ich heute bin.
So war ich erst vor einigen Augenblicken noch die alte Hexe Ursula Freibank, nur um jetzt eine ganz andere und neue Hexe, mit einem anderen und neuen Namen zu sein. Das ist gut so, weil es unsere Begegnung erfordert und ich mich meiner Vergangenheit mit den Angelos öffnen möchte. So spricht der Name die Geschichte über mein Leben als Hexe, der neuen Hexe Angelos Wahrheitslieb. Es sind die Angelos, nach denen ich mich sehne und nach denen ich verzweifelt rufe, denke ich an meinen Namen.
Der Mann blickt mich hilflos an. Er ist sich nicht sicher, was er von mir und meinem neuen Namen halten soll. Ebenso fühlt er sich nun den Lehren seiner Religion entrissen, in der die Engel etwas sehr Heiliges und nahezu Göttliches verkörperten. Ich habe ihm jedoch von Wesenheiten erzählt, die nicht göttlich sind, nur weiter entwickelt und eine andere Form leben, als wir Menschen.
So hört er mir nun zu, wie ich ihm versuche zu erklären, das es gute Wesen sind, die uns über das Erleiden von Erlebnissen weiter entwickeln wollen, wir es jedoch oftmals einfach nicht verstehen und sie als Bedrohung empfinden. Sie lassen uns Geschehen erleiden, und sie lehren uns das Fürchten, immer in einem strahlenden Licht der Güte und einer unendlichen Liebe stehend, mit dem Gesicht von wahrhaften Engeln. So wie der Mann, werden die Menschen hin und her gerissen sein, zwischen dem Leiden und dem machtvollen Guten, das die Angelos uns als Bild, in unseren Köpfen zeichnen.
Notwendiger Respekt wird von uns als Demut vor ihnen gelebt, so dass wir uns unterwürfig und jämmerlich verhalten, wenn wir ihnen begegnen oder von ihnen erzählen. Dabei suchen sie den Kontakt zu uns, um uns in eine Welt hinein zu helfen, die uns schläfrige Menschen mit gewaltigen Schritten voran bringen würde.
Als Angelos Wahrheitslieb fordere ich von dem Mann, auf Gebete und Huldigungen zu verzichten und den Angelos mit Freundschaft, Lernfreudigkeit und dem Respekt zu begegnen, dem ein Schüler seinen Lehrern zollen sollte. Gebete aus der Konserve, sie helfen in den Gefilden der Zwischenwelt nicht sehr viel weiter. Aufrichtige Freundschaft und gegenseitiger Respekt sind wohl die besten Gebete, die man stets beten sollte, hat man es erst einmal mit den Angelos und unserer aller Heimat, der Zwischenwelt, zu tun.
Autor: © Alexander Rossa 2019
Dritter Sonnentag im Lebendwerd 1993
Wolkenverhangen sind sie, die Berge, weit entfernt, am Horizont.
Gleich gewaltiger Riesen und in weisse Watte gehüllt, so liegen sie dort.
Als würden sie schlummern, träumen von einer vergangenen Zeit.
Auch ich bin in meine Träume versunken, die Gedanken sind weit weg.
Will mich nicht mehr grämen und nicht suchen, nach dem Sinn meines Seins.
Blei in meinem Kopf, es wiegt schwer, bin ewig an den Körper gebunden.
Abstreifen das hakende Kleid, gewebt aus Verzweiflung und Angst.
Ja, das will ich, für ewig frei und unbekümmert sein, möchte nur noch leben!
Doch wenn ich dann auf dem Boden sitze, in der Ecke, und alles ist dunkel,
sehe keine weiten Berge, keine grünen Hügel, niemals weisse Watte, dann
sind sie alles, was da ist: der Gram, die Suche, die Gedanken.
Sie sind stets der Kern meines Lebens, auch wenn ich ihn nicht mag.
Lausche meiner zitternden Stimme, meinem Flehen, dem leisen Weinen.
Verzweiflung ist es nicht, nur das Greifen, nach diesen Sternen in mir.
Glitzern schön, funkeln wunderbar, und dann doch so weit entfernt.
Was würde ich geben, einmal nur in ihrer Nähe zu sein, in ihrem Licht!
Entfachtes Feuer der Hoffnung, die lodernde Glut, sie sprüht in den Himmel.
Sagenhaftes Wesen dort, mir gegenüber. Zauberhaft schön, so blickt es mich an.
Der Held mit triefendem Schwert, er kämpft, vertreibt üblen Gram in mir.
Mit stählerner Hand gegen den bleiernen Drachen, tief in meinem Herzen.
Ein Feldzug gegen Verzweiflung und Angst, ein wahrer Ritter ganz vorn.
Eine wahre Schönheit unter glänzender Rüstung, nur für mich - welch Glück.
An meiner Seite mich zu schützen, es ist die Liebe als Reiter, auf schlankem Ross.
Ja, ohne dich, ich wäre auf ewig verloren und vergessen, im finsteren Verliess.
Ich blicke aus dem Fenster, und was muss ich dort sehen?
Zwei junge Menschen sitzen auf meiner alten Bank, ganz alleine und mitten im Wald, in meinem zerzausten Garten, und sie küssen sich.
Auch ich habe da früher einmal gesessen und habe geküsst, die fordernde Zunge eines Mannes in meinen Mund gelassen und deutlich seinen Drang gespürt, mich nehmen zu wollen. Erst sprach er von der Schönheit des Waldes, von dem Duft der Blumen und der betörenden Natur, doch dann wollte er nur noch eines, in mich eindringen und mir damit seine Liebe beweisen.
Damals hatte ich kaum Ahnung von diesen Dingen, war noch ganz jung und hatte nur jeden Tag bei meiner Mutter im Garten geholfen.
Doch wie es nun einmal ist, so kam auch für mich irgendwann die Zeit, in der ich mich für Jungs interessierte. Dann, ein wenig später, kam dann in Folge die Zeit, in der aus den Jungs erwachsene Männer geworden waren, die nur eines im Kopf zu haben schienen. Sie wollten mir auf ihre typisch männliche Art beweisen, wie sehr sie mich doch liebten. Von allen diesen Männern hat es keiner jemals begriffen was es tatsächlich heißt, eine Frau wirklich zu lieben.
Wie sollten sie denn auch, wenn sie sich nicht einmal selbst lieben können?
Sie waren viel zu jung, um erfassen zu können, was Liebe wirklich bedeutet. Schon ihr grundlegender Gedanke, mir ihre Liebe beweisen zu wollen und bereit zu sein, sich der eigenen Gier zu ergeben, in mich einzudringen, ohne meine Gefühle auch nur ein wenig erahnen zu können, das alles fühlt sich wie zwei kräftige Schläge an. Es waren zwei Schläge in sogar gleich zwei junge Gesichter: in meines und auch das ihre.
Ich kann mich noch gut erinnern wie es damals war, als wir beide dort sassen und uns eifrig küssten. Gefühle waren da. Natürlich waren Gefühle vorhanden, doch sicher war ich mir selbst eben nie, diesen Mann wirklich zu lieben. Niemals konnte ich davon ausgehen wirklich zu lieben. Sie war mir selbst fremd, diese ominöse Liebe.
Der Sehnsucht und dem Verlangen nachzugeben, das mag vielleicht vage andeuten, dass es dort etwas Interessantes gibt. Doch war es die wahre Liebe? Echte Liebe war das ganz sicher nicht.
Später habe ich geheiratet, wollte eben so sein, wie man es von mir erwartet hatte und wie ich es auch selbst von mir erwartete. Wir führten eine gute Ehe bis mein Mann dann, nur 3 Jahre und 5 Tage später, in meinen Armen starb.
Schrecklich war das. Wochen voller Schmerz und Tragik folgten. Doch er war letztlich nicht mehr, als nur ein guter Freund gewesen, ein Vertrauter wohl eher nur, als eine wirkliche Liebe. Über die lange Zeit hinweg hatte ich mich an diesen Mann, seinen Geruch und seine Nähe gewöhnt. Aber eine wirkliche Liebe, das war er und es nicht.
So hoffte ich es jedenfalls.
Ja, die Menschen verstehen mich nicht, aber ich hoffte damals, dass es nicht die wahre Liebe war. Denn war das bereits die Liebe gewesen, von der alle so schwärmten und glühend erzählen, so hätte ich mich der hoffnungslosen Verzweiflung hingegeben und mit dem verheerenden Entsetzen leben müssen, einer unsagbar tragischen und verblendenden Überbewertung aufgesessen zu sein, die sich als nicht mehr heraus stellte, als nur eine sehr kraftvolle Emotion.
So war ich mir sicher, dass sie es nicht war, die allseits so begehrte Liebe. Sondern es war nur ein Nachgeben eines brennenden Verlangens, zum Körper und zur Nähe des anderen, des Mannes, und es war das Erleben des Gefühls der Geborgenheit.
So wartete ich, war ganz geduldig, irgendwann die wahre Liebe zu finden.
Ich wollte bereit sein, wenn ich auf sie traf und sie dann nie wieder loslassen.
Ja, so war das damals, und wenn ich heute dort diese beiden Liebenden auf der Bank sitzen sehe, dann stelle ich mir die Frage, ob es nicht schon zu spät für beide ist?
Sitzt man auf einer Bank im Wald und küsst sich, so kann das doch nur bedeuten, dass es sich nicht um wahre Liebe handelt, da man sich nachlässig einer eigenen Begierde hingibt. Sich auf Kosten eines anderen Menschen körperliche und spirituelle Befriedigung zu verschaffen, das scheint mir ein klares Anzeichen dafür zu sein, dass es sich eben nicht um wahre Liebe handeln kann.
Das klingt vielleicht ein wenig bizarr und ungewöhnlich, aber muss auf jeden Fall durchdacht werden, will man sich klar darüber werden, was die Liebe wirklich ist?
Das würde jedoch bedeuten, die Pfade zur wahren Liebe, sie führen direkt zu dem Ziel der Selbstaufgabe, Hörigkeit und völligen Ergebenheit.
Ist die Liebe eine vollkommen gegenseitige und reziprok ausgerichtete Konstruktion, so entsteht ein seltsames Gebilde zwischen den sich liebenden Wesen, die sich gegenseitig hörig und ergeben sind und dabei zumindest einen gewissen Teil ihres Selbst für den anderen bereitwillig aufgegeben haben.
Nun, man möge sich bitte doch einmal vorstellen wie diese Beziehung aussehen müsste und ob so eine Konstruktion sinnvoll wäre. Die Menschen neigen im Allgemeinen dazu, die Liebe zu glorifizieren und sie auf einen, für Herz und Verstand, kaum zu erreichenden Thron zu heben.
Liebe kann Berge versetzen und schier alles möglich machen, so jedenfalls heisst es doch immer wieder so schön. Aber kaum ein Mensch hat sich über die Liebe, nach der er oder sie sich so sehr sehnt, tatsächlich einmal weiterführende und anstrengende Gedanken gemacht. So ganz lax und launig lieben sich viele Menschen hier und da ein wenig. Sie verbinden ihre Schmetterlinge im Bauch mit wahrer Liebe und meinen damit begriffen zu haben, worüber sie sprechen und schwärmen. Ja, selbst bei gutem Essen meinen es viele, dieses innig zu lieben. Doch die Liebe ist und bleibt ein Mysterium.
Ich denke nicht, das Liebe etwas damit zutun hat, ob sich zwei Menschen bei ihren hemmungslosen Sexspielen gut verstehen, ob sie sich gegenseitig tolerieren, oder ob sie die berühmten Schmetterlinge im Bauch emsig flattern spüren, sollte der oder die Angebetete in der Nähe sein. Doch genau das meine ich, auch wenn diese ganzen wunderbaren Dinge immer wieder gerne der wahren Liebe zugeordnet werden. Nein, ich denke, die wahre Liebe ist für den Menschen mit seinen herkömmlichen Sinnen nicht in ihrer Vollkommenheit und Pracht wahrnehmbar. Tatsächlich erscheint sie dadurch den Menschen mit einer gewissen Transzendenz. Sie scheint wohl mehr eine tiefe, spirituelle und multidimensionale Verbindung zweier Lebewesen zu sein, dessen Reichweite wir nicht einmal annähernd erahnen können.
Es fällt auch mir nicht leicht, die Liebe anschaulich und gerecht zu erklären. Doch anhand des weit verbreiteten Glaubens an die Wiedergeburt kann ich versuchen zu zeigen, wie weitreichend wahre Liebe wirklich sein sollte.
Werden zwei sich wirklich liebende Wesen wiedergeboren, so werden sie sich immer wieder treffen. Selbst dann treffen sie sich wieder, wenn sie in schier endlosen Versionen in einer unendlichen Anzahl von Dimensionen und Ebenen des Seins zusammen und auf einmal existieren. So sind und bleiben beide Wesen auf eine geheimnisvolle Art und Weise verbunden. Es wandelt sich nur ein winziger Teil von ihnen. Dieser vergeht aber nicht. Sie sind über dieses unendliche Sein hinweg eine einzige, neue Seinsform geworden, deren Liebe sich durch die immer wieder neue Erkenntnis der Verbundenheit, auf allen diesen Ebenen, neu modelliert und als eine Art neue wunderschöne Facette erscheint.
Meinen wir also auf der Bank im Wald zu sitzen und uns zu lieben, so bleibt uns letztlich als vermeintliches Kennzeichen der Liebe, nur die Erkenntnis der Verbundenheit in dieser einen, uns bewussten Form. Alle sich daraus ergebenen Handlungen jedoch, sie haben mit der wahren Liebe an sich, nicht viel zutun. Sie sind nur ein Aufeinanderprallen von Bedürfnissen, Verlangen und gegenseitiger Hingabe.
Damit ist die Liebe eigentlich nur ein Augenblick der Erkenntnis, was ihr Ansehen aber keinesfalls schmälern soll, da diese Erkenntnis nicht Mutmassung, Glaube oder Interpretation ist. Sondern sie ist damit Wahrheit in all seiner enormen Stärke und Macht. Liebe ist Wahrheit.
Sie stellt damit in der Tat die grösste erreichbare Kraft im Gefüge des Seins dar, eine Kraft, die mit ihrer Eindeutigkeit alles bewegen, erschaffen und zerstören kann. Daher ist das Streben nach Wahrheit und Erkenntnis wohl auch immer gleich zu setzen, mit dem Streben nach wahrer Liebe.
Trifft ein Mensch also auf Wahrheit in seinem Leben, so zeigt sich die Reaktion auf diese Wahrheit immer sehr stark emotional und beeindruckend. Wahrheiten erkennt man immer nur durch das Begreifen, also einer plastisch formulierten Art der Erfahrung. Da unsere Welt jedoch nicht auf Wahrheiten aufgebaut ist, sondern nur auf zahllosen Interpretationen von Erfahrungen von Menschen, die als Summe ein Weltbild ergeben, stellt die Liebe, als erfahrbare Wahrheit, den spirituellen Eckpfeiler für fast alle Menschen dar.
An diesen Eckpfeiler klammern sie sich gerne. Sie begnügen sich mit dieser einen, erfahrenen Wahrheit, ohne dabei zu verstehen, dass die wahre Liebe nur der Beginn der Erfahrung vieler Wahrheiten ist. Die Liebe hat stets so viele Gesichter, wie es tatsächliche Wahrheiten gibt. So ist die Suche nach der wahren Liebe, ein immer weiter voran schreitender Prozess, die gesamte Welt, im Sinne ihrer universellen Dimension, so zu erfahren, wie sie auch wirklich ist.
Als Prämisse für das Erfahren von wahrer Liebe gilt daher, das sich möglichst breite Öffnen für die Gefühle und die Emotionen der wahren Liebe. Das jedoch hat nichts mit Hingabe, Selbstaufgabe und Hörigkeit zutun. Ebenso hat wahre Liebe nichts mit dem Beweis dieser zutun, wie beherzt der Mann in die Frau eindringt. Nur um das einmal klar zu stellen.
Die wahre Liebe muss jeder ganz tief in sich selbst suchen. Das ist eine fast unlösbare Aufgabe für ein ganzes Leben. Doch irgendwo tief in uns, da wird man sie vielleicht finden. Sie wird in unendlicher Form und in unendlich vielen Ausprägungen von uns, eben gerade in diesem Augenblick, so wie in jedem anderen Augenblick und in vielen Dimensionen und in nahezu unendlich vielen parallelen Seinsformen bereits gelebt. Nur die Erkenntnis und das Begreifen, die beiden Kinder des Bewusstseins, trennen uns von dieser erstaunlichen Wahrheit.
Doch wenn ich diese beide Menschen dort draussen sehe, so tauschen sie Freuden aus und sind gierig aufeinander. Romantische Augenblicke jenseits der Liebe, auch wenn dieses ziemlich hart klingen mag und dann auf meiner schönen Parkbank, auf der die Vögel um diese Uhrzeit, ihre kleinen Körner picken, während ich dort meinen warmen Tee zu trinken pflege... Nein, das ist nicht gut!
Ich gehe hinaus und rufe den beiden küssenden Menschen zu, doch bitte rasch zu verschwinden. Sie verstehen mich nicht und schauen nur erschrocken zu mir herüber.
Natürlich verstehen sie mich nicht und fühlen sich wohl, wie zwei schuldlose Liebende, die doch keinem Menschen auch dieser Welt mit ihrer Küsserei schaden können. Natürlich denken sie das. Ein Ärgernis.
Ich werde lauter und drohe mit der Polizei.
Da stehen sie beide auf und beschimpfen mich als eine alte Hexe, die man damals vergessen hatte, auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.
Klar, Lebenda Tränengras kennt das schon.
Die Menschen verstehen einfach nicht und wollen gleich verletzen.
Dann gehe ich zu der alten Bank, hebe die zwei achtlos weg geworfenen Zigarettenkippen auf und streue ein wenig von den frischen Körnchen auf die zerfurchten Holzbretter der Sitzfläche. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät für meine kleinen Freunde.
Wenn die saftig grünen Blätter der Bäume rauschen und das Brummen der Hummeln im hohen Gras zu hören ist, dann dürfen die kleinen Vögel auf meiner alten Bank einfach nicht fehlen. Es ist das Gesamtbild, an dem mir so sehr liegt, das es mir fast so erscheint, als würde mir Mutter damit liebevoll zu lächeln.
Was wäre ich nur ohne sie?
Ich setze mich auf die Bank.
Die Vögel haben keine Furcht mehr vor mir.
Sie werden auch kommen, wenn ich hier sitze und mich an allem erfreue, was um diese Bank herum lebt, duftet und rauscht.
Die Menschen sind mir einfach viel zu grob geworden.
Da kommen sie hier in den Wald, um vor meiner alten Hütte, ihrer schnöden Gier nach Sex nach zu gehen. Was dachten sie wohl, wie ich reagieren würde, diese jungen Leute?
Jetzt werden sie wieder in die Stadt gehen und schlecht von mir reden.
Wie eine kleine Bärin habe ich meine Bank verteidigt, fast schon so, wie eine echte Ursula.
Vielleicht sollte ich mich nun Ursula Freibank nennen.
Die Hexe Ursula Freibank.
Das klingt modern und fast so, wie sich die Leute aus der Stadt gerne nennen.
Lebenda Tränengras ist ein typischer Hexenname.
Aber Ursula Freibank setzt Akzente für den Frieden hier im Wald.
Vielleicht ist es so. Das wird sich zeigen.
Da sind sie schon, die kleinen Vögel, und was sie für schöne Geräusche von sich geben. Die Menschen sagen, sie würden piepen. Doch ich finde das wieder einmal typisch menschlich. Wie sollen die Vögel piepen, wo sie doch keine richtigen Lippen haben, um Piepen zu können. Ohne Lippen kann man nicht piepen und mit einem Schnabel erst recht nicht. Eher »uiecken« sie, oder sie »iecken« vielleicht, aber »piepen«? Nein, das ist zu albern.
Ursula Freibank muss lachen.
Aber die kleinen Federbälle, die emsig auf der Bank die wenigen Körner picken, sie lassen sich nicht davon stören.
Sie kennen ihre Hexe.
Autor: © Alexander Rossa 2019