»Engel haben Flügel, mit denen sie in unsere Träume und Visionen fliegen können.«
Nach der Leere kommt das Licht, dann das Bild. Nicht immer kommt das Licht, aber immer das Bild und gelegentlich, da folgt ihm ein Es.
Auf dem Sofa sitze ich im Wohnzimmer.
Es ist dunkel. Ich erkenne es, auch wenn es nicht mein Wohnzimmer ist, in dem ich sitze. Oft ist es dunkel, wenn ich hier sitze. In diesem Augenblick ist mir bewusst, dass es jetzt mehr ist, als nur ein Traum. Wäre es ein Traum, dann fehlte mir die Erinnerung.
»So ist es.«, höre ich eine weiche Stimme freundlich sagen.
Dort steht neben dem Sofa eine junge Frau. Sie ist bildschön und blickt mich freundlich an.
Sie ist das Es.
Oft ist es eine Frau, manchmal ein Mann. Ich weiß nicht, wer sie sind und was ihre Aufgaben und ihre wahren Ziele sind. Nur weiß ich, dass sie so hoch entwickelt zu sein scheinen, dass sie mein Bewusstsein fest im Griff haben. Ich bin völlig wehrlos. Doch bin ich nicht erschrocken. Es ist etwas an dieser Frau, was jeden Zweifel in mir, jede Furcht und jedes Misstrauen vollkommen aufgelöst hat.
Sofort ist mir bewusst, dass es kein Traum mehr ist, in dem ich mich befinde. Voll da bin ich, bei Bewusstsein und Verstand, und doch bin ich eigentlich in meinem Bett und schlafe.
»Joshua kommt gleich nach Hause. Du kennst ihn bereits.«, streichelt ihre sanfte Stimme meinen Verstand.
»Ja, ich kenne ihn. Einige Träume habe ich mit ihm erlebt.«
Mit einem recht faszinierenden Selbstverständnis spreche ich mit dieser seltsamen Frau, für die es keinerlei Geheimnisse zu geben scheint.
»Joshua braucht deine Hilfe. Dieser Mann ist einsam und verzweifelt. Er ist ein wenig, wie du und du bist ein wenig, wie er. Es ist dieses Band zwischen euch, das ihr beide schon lange erahnt. Er braucht dich jetzt.«
»Ich träumte von ihm, aber kenne ihn nicht wirklich. Seine Freunde und er, sie sind nur ein Traum, nicht mehr.«, meine ich leise, als führe ich ein Selbstgespräch.
Die junge Frau kommt näher.
Ich spüre eine große Freude in mir, bin ihr willenlos ausgeliefert.
Dieses Wesen ist so machtvoll, dass ich mich wie ein kleine Kind in den warmen und beschützenden Armen seiner Mutter fühle.
»Du weißt, dass es nicht so ist. Ihr teilt euch ein Bewusstsein, nur durch das Unvermögen getrennt, mehrere parallel existierende Ausprägungen vollumfänglich begreifen zu können. Deine Träume sind nur Echos aus vielen Leben, in denen Du bist. Einige Menschen vermögen mehr zu begreifen, als ihre Mitmenschen. Joshua und du, ihr begreift euch als existent. Du kannst das nicht leugnen. Bedenke doch, wer ich bin. Ich kenne euch beide gut.«
Ich weiß sehr wohl, wer diese erstaunliche Frau ist. Sie ist eines der Wesen, von denen viele Menschen seit Anbeginn der Menschheit an, immer wieder und wieder berichtet haben. Sie ist eine Dakini, Khandro, ein al-Mala’ika, eine Devi, Valar oder Maiar, ein Angelos oder Engel, um nur einige Namen zu nennen, die wohl zutreffen könnten. So viele Menschen sind ihnen bereits begegnet und doch sind sie noch ein Mythos bei den Menschen, wenn auch einer, der in nahezu allen Kulturkreisen zu finden ist.
»Was erwartest du von mir? Ich bin nur ein Mensch. Wir Menschen, wir sind einfach noch nicht so weit. Jeder Versuch wird einer Tölpelei gleichen. Jeder Eingriff muss ein Chaos auslösen. Meine Mitmenschen werden mich nicht verstehen, mich meiden und für verrückt erklären.«, versuche ich ihr dezent mitzuteilen.
Sie gibt sich völlig unbeeindruckt und lächelt mich weiterhin an.
Diese beeindruckende Wesenheit ist eine fabelhafte Erscheinung und dominiert meinen Geist völlig.
»Ihm helfen zu wollen, wird allen wohl tun. Du wirst wissen, wie du helfen kannst. Ihr seid miteinander verbunden. Wir sind alle miteinander verbunden. Wer sonst kann ihm besser helfen, als er sich selbst, über dich und andere. Hilf dir selbst und finde das Glück der Erkenntnis für euch beide.«
Dann höre ich den Schlüssel an der Tür.
Joshua kommt nach Hause.
Er geht in das Wohnzimmer, ohne das Licht einzuschalten. Dann schlendert er an der Frau und mir vorbei und scheint uns nicht zu bemerken. An den Tisch setzt er sich.
Er sitzt einfach nur da und denkt offenbar nach.
Manchmal hört man Joshua seufzen.
Doch die meiste Zeit, sitzt er regungslos da und blickt in die Schwärze des Wohnzimmers.
»Er kann uns nicht sehen?«, frage ich in den Raum hinein.
»Er könnte schon, wenn er nur wollte.«, antwortete dieses Wesen neben mir.
»Hören kann er uns auch nicht, richtig?«
Der Engel schüttelte kaum merklich den Kopf und beobachtete uns beide.
Es ist eine seltsame Situation, bedenkt man, das ich eigentlich schlafe und alles nicht wirklich real sein dürfte. Das ist krass. Doch habe ich das schon so oft erlebt.
Die junge Frau lächelt mich nun an, als hätte sie meine Gedanken erraten, was sie wahrscheinlich auch hat.
Nach einiger Zeit des Nachdenkens steht Joshua auf und geht ins Bad. Offenbar muss er auf die Toilette. Er vermeidet es dabei, das Licht einzuschalten.
Ihm scheint die Dunkelheit zu gefallen.
Als er nach einer Weile wieder im dunklen Wohnzimmer erscheint, gibt er für einen Augenblick irritiert. Er hält inne und schaut mir direkt in mein Gesicht. Offenbar hat er eine Art Huschen wahrgenommen. Ich kenne das, da ich selbst oft dieses Huschen wahrnehme, wenn ich nicht schlafe.
»Wie ich schon sagte, wenn er wollte, könnte er uns sehen.«, flüstert der Engel an meiner Seite und berührt sanft meine Schulter.
In diesem Augenblick ist die junge Frau verschwunden.
Ich bin mit Joshua alleine in dem dunklen Wohnzimmer.
Der Verlust des Engels, er hat in mir eine unglaubliche Monotonie und Kälte zurückgelassen. Als hätte man mir die schützende Hand und ihre Wärme entzogen und mich in diesen kalten Traum verbannt, so kam es mir vor. So war es tatsächlich auch. Sämtliche Gefühle scheinen zu sterben, und die Erinnerungen verwelken langsam, denn was mir geblieben ist, das ist doch nur noch ein Traum.
Dann steht Joshua vom Tisch auf und geht in die Küche.
Er öffnet den Kühlschrank. Das Kühlschranklicht erschreckt mich.
Ich schlage meine Augen auf und befinde mich liegend in meinem Bett. Eine Vision hatte ich erlebt. Visionen sind unverkennbar für geworden, da sie den menschlichen Geist bis in eine unangenehme Tiefe erschüttern. Man benötigt oft Tage, um wieder in seine Spur zu kommen. Rastlos schienen meine Gedanken nach Erklärungen und Antworten zu suchen. Doch die emotionale Erfahrung einer Vision, sie stellt das eigene Weltbild immer wieder gnadenlos auf den Kopf und verändert den Erlebenden.
Autor: © Alexander Rossa 2019
»Ein Traum ist das blasse Abbild von was und von wem?«
Nach der Leere kommt das Licht, dann das Bild.
Nicht immer kommt das Licht, aber immer das Bild.
Ein Raum öffnet sich vor mir. Es ist das Büro.
Ungewöhnlich hell ist es. Nur den leeren Schreibtisch kann ich sehen und die hellen Rahmen der Fenster.
Es ist schwer, die Eindrücke zu beschreiben.
Ich fühle etwas. Doch was ich fühle, das vermag ich nicht genau zu beschreiben. Meinen Körper kann ich nicht vollständig wahrnehmen, ihn nicht richtig fühlen. Denken kann ich nicht. Mir fehlt das Vermögen, Schlüsse aus dem zu ziehen, was ich sehe. Begreifen kann ich nicht. Die Bilder präsentieren sich mir, wie die Bilder in einem alten Stummfilm. Tätigkeiten und Handlungen geschehen einfach. Das Gewicht meines Körpers, es scheint nicht mehr vorhanden, hat sich in eine Nichts aufgelöst.
Schon sitze ich am Tisch.
Maikes Augen blicken mich an.
Sie sitzt dort, wo Helge sitzen müsste.
Doch empfinde ich keine Verwunderung.
Mein ganzer Fokus liegt nur auf Maike.
Es ist das Geschehen an sich, das mich lenkt, und sind keine klare Motivation und keine Gefühle. Meine Gefühlswelt scheint nur ein amöboides Konstrukt zu sein. Die Geschehnisse durchdringen nicht die Watte, in der mein Ich gebettet scheint. Sie kommen nicht an mich heran, um mich lieben, leiden oder sogar begehren zu lassen.
Maike lächelt.
Dann wendete sie sich ab und tippt etwas auf der Tastatur ihres Computers. Es ist kein Ton dabei zu hören, kein Geklapper der Tasten zu vernehmen.
Die Tür öffnet sich und ein Mann kommt herein.
Er ist schon älter. Lebensjahre und Kummer haben ihre Spuren hinterlassen. Mir ist dieser Mann bekannt.
Er geht an mir vorbei und bleibt kurz vor dem Schreibtisch stehen.
Von meiner Anwesenheit nimmt er keine Notiz.
Keines Blickes würdigt er mich, als wäre ich Luft.
Dann zieht er sich die Hose zurecht und räuspert sich leise.
Er wirkt unentschlossen und unsicher.
Maike sieht ihn an.
Er lächelt.
Dann sehe ich nur ihre Zunge, wie sie kaum merklich die Lippen benetzt. Er sieht es auch.
Dann scheint es fast so, als würde ein Ruck durch ihn gehen.
Er geht auf Maike zu.
Dann bückt er sich zu ihr hinunter und streichelt ihr sanft über das Haar. Sie blicken sich an, berühren sich zärtlich. Obwohl ich einige Meter weit entfernt von beiden stehe, meine ich, den Duft von Maikes Parfüm wahrnehmen zu können. Dennoch scheine ich auf dem Boden festgeklebt zu sein. Ich stehe nur da, kann mich nicht bewegen und nehme meinen Körper kaum wahr.
Maikes Duft ist betörend, obwohl ich ihn nicht riechen kann.
Sein in mir bewahrtes Bild ist es, nur eine Erinnerung, die mein Bewusstsein raffiniert umspielt.
Beide Gesichter nähern sich, bis sich die Lippen berühren.
Obwohl ich nicht küsse, nur beobachten kann, bin ich ungemein verwirrt und irritiert. Ich sehe beide Menschen küssen und spüre nur diese seltsame Rastlosigkeit in mir. An seiner Stelle möchte ich sein und kann es nicht.
Energisch strebe ich dem Paar entgegen.
Mit aller Kraft versuche ich mein rechtes Bein zu heben. Doch es bewegt sich kaum. Ich höre mich stöhnen. Kaum Luft steht mir zur Verfügung. Nur ganz langsam erhebt sich mein Bein vom Boden. Mit meinem ganzen Gewicht schiebe ich mich in die Richtung der Küssenden. Jeder Zentimeter ist eine Qual. Völlig verzweifelt bin ich, erkenne jedoch nicht den Grund dafür.
Dann beginne ich damit, zu schreien.
Doch nicht ein einziger Ton verlässt meine Kehle, um durch den Mund das Weite zu suchen. Weinen könnte ich, als ich meine Zähne fest zusammen beiße, um mich mit aller Kraft immer weiter vor zu bewegen.
Dort stehen sie und küssen sich.
Ein nicht zu bändigendes Verlangen ist in mir dort zu sein, ganz nahe bei dem Paar. Doch ich komme nicht voran.
Die Zeit vergeht. Meine Kraft schwindet. Die Verzweiflung in mir droht, mich zu verbrennen.
Dann höre ich ein lautes Lachen.
Ich sehe mich um. Wie aus dem Nichts, ist Helge neben mir erschienen. Er hat ein breites Grinsen in seinem Gesicht. Helge verhöhnt mich, und er ist es auch, dessen lautes Lachen ich hören kann.
Ich verabscheue dieses Gesicht und seinen billigen Spott.
Seine Hände greifen nach mir.
Sie erreichen meinen Arm und ziehen mich an ihm zurück. Immer wieder suche ich den Weg zum Schrei. Doch alles ist still. Nur das Lachen von Helge ist zu hören.
Dann wird es finster und das Lachen verstummt.
Meine Augen brennen.
Ich liege in meinem Bett.
Erwacht bin ich. Mühsam drehe ich mich um. Eine ganze Weile benötige ich, um meine Orientierung wieder zu erlangen.
Diese Träume sind mir inzwischen ein Graus.
Sie sind nicht selten bizarr.
Dieser Joshua in dem Traum, Maike und Helge, sie sind sie eine Fiktion? Ich kann mir das kaum erklären. Mich nimmt das alles sehr mit.
Lange liege ich fast immer wach, wenn ich so ein Traum durchlebt habe. Alles ist sehr schwer zu begreifen und noch schwieriger ist es nach so einem Traum, seine eigene Mitte wieder zu finden. Maike und dieser Kuss, sie haben mich offenbar sehr aufgeregt.
Doch sind diese Traumfiguren eigentlich nicht mehr, als nur die Protagonisten in einem eher schlechten Film.
Es fällt mir schwer, wieder einzuschlafen.
Autor: © Alexander Rossa 2019
»Das menschliche Auge, es entspricht einer Digitalkamera
mit einer Auflösung von etwa 576 Megapixel.«
Es ist Abend.
Ich stehe am Fenster und blicke hinaus.
Meine Füße schmerzen.
Meine Nase juckt ein wenig.
Der Nacken ist verspannt.
In meinen Ohren höre ich Rauschen.
Das wird das Blut sein, das durch die feinen Adern gepresst wird.
Schon eine ganze Weile stehe ich hier.
Die Sonne geht bereits unter und taucht den sichtbaren Horizont in ein rötliches Licht.
Kühle Luft atme ich ein.
Meine Bronchien, sie kitzeln ein wenig, als die Luft an ihnen vorbei reibt.
Sie ist angereichert mit den vielen Gerüchen des Tages.
Am Abend mag ich die Luft nicht.
Sie ist meistens sehr widerlich und scheint richtig abgenutzt zu sein.
Ich empfinde sie als ein Gemenge aus Abgasen, dem Schweiß und Geruch vieler Menschen und Gestank von Fäkalien.
Diese Luft scheint mit dem Tod angereichert zu sein, den man bei jedem Atemzug, von sich weisen muss. Nur selten schaffen es im Sommer die Blumen, diesen ekelerregenden Mief, mit ihrem betörenden Duft zu überlagern.
Erst zu ganz später Abendstunde entlädt die Natur dieses Luftgemisch und erfrischt sie auf eine nahezu magische Weise.
Dann fühlt man sich wieder freier und voller Energie, atmet man sie gerne ein und sucht nach den lebendigen Düften.
Doch an diesem Abend ist sie wieder einmal nicht mehr, als die unachtsam verschmierte Unterschrift, des zur Neige gehenden Alltags.
Meine Augenlider fühlen sich schwer an.
Beide Augen brennen und tränen leicht.
Sie haben viel an diesem Tag sehen müssen.
Das wollten sie nicht, doch sie mussten.
Ich bin müde, fühle mich ausgelaugt und ausgenutzt.
Auf die Dächer der Häuser blicke ich nun mit ihnen.
Die Dämmerung lässt die Steingebilde düster und schattig erscheinen. Hinter einigen Fenstern brennt Licht.
Viele Lichter erscheinen mir warm und einladend, andere dagegen, kalt und grell.
Nur eine Straße führt von meinem Haus weg.
Viele Autos stehen an den Seiten geparkt, sauber wie aufgereiht, wie Perlen an einer Perlenkette.
Man hört das Rauschen der Stadt und ein Motorengeräusch.
In weiter Ferne sieht man die roten Rücklichter eines sich entfernenden Fahrzeugs.
Das schwache Abendrot lässt die graue Fassade meines Hauses in oranger Farbe leuchten.
Es ragt ein wenig über die anderen Häuser hinaus, die dort unten bereits im abendlich Schatten, auf die Nacht warten.
Nur ganz leicht und eher schwach angedeutet, hat sich das Rot des Abends, auf das Mauerwerk des Hauses gelegt, in dem ich wohne.
Endlich einmal sieht es schön und einladend aus und nicht nur schmutzig und kalt.
Ist es Traurigkeit, oder ist es Angst, die meinen Brustkorb eng werden lässt?
Schon atme ich die Luft wieder aus.
Nun ist sie warm. Kein Kitzeln der Bronchien ist zu spüren.
Mit dem Ausatmen fühle ich etwas Entspannung.
Meine Augenlider schliessen sich.
Autor: © Alexander Rossa 2019