Die Tür öffnet sich am Morgen. Ich liege auf dem Boden vor meinem Bett. Ich bin wach. Meine Augen sind geöffnet.
»Guten Morgen. Es gibt Frühstück.«
Ich reagiere nicht.
»Haben sie die ganze Nacht auf dem Boden gelegen?«
Mir ist es egal, was die Frau von mir denkt. Weiter erntet sie nur Schweigen von mir. Ich habe mich entschieden. Seit Stunden liege ich hier und trenne mich von meinem Leben. Die Vergangenheit streife ich ab. Dem Augenblick gebe ich mich hin. Was ich bisher krampfhaft festgehalten habe, das lasse ich nun los.
»Hallo? Geht es Ihnen gut?«
Die Schwester schaut nach mir. In ihrem Gesicht ist Besorgnis zu erkennen. Dann läuft sie aus dem Raum. Sie wird wohl einen Arzt holen.
Innerlich bin ich vollkommen gelöst, jedoch auch bedrohlich verletzt. Mein Körper wehrt sich gegen seine Aufgabe. Doch mein Geist und mein Wille, sie gebieten ihm Einhalt. Er ist doch nichts weiter, als nur ein Relikt der Gefangenschaft.
Zusammen mit dem Stationsarzt kommt die Schwester wieder. Er untersucht mich eilig.
»Haben Sie etwas genommen? Hallo?«, fragt er mich. Doch ich reagiere nicht. Natürlich habe ich nichts genommen.
»Er hat einen sehr niedrigen Blutdruck, und der Puls ist schwach.«, meint der Arzt.
In der offenen Tür steht plötzlich ein junger Mann. Es ist Frank. Er wirkt erschreckt. Was macht Frank hier? Hat er mich womöglich doch an die Polizei verraten. Sicher hat er es dann nur gut gemeint. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf das Loslassen. Die Freiheit ist mein Ziel.
»Es wird immer dramatischer. Sein Puls stimmt einfach nicht.«, meint der Arzt und zieht eine Spritze auf.
Frank kommt ins Zimmer. Er steht nun direkt neben mir. Der Arzt gibt mir eine Spritze. Kurz darauf spüre ich, wie sie wirkt. Dann erkenne ich, dass es eigentlich so sehr einfach ist. Mein Geist ist um so vieles stärker als alles, was sie mir jemals spritzen könnten. Behutsam zwinge ich meinem Körper zum Gehorsam. Ich löse mich allmählich von ihm.
»Er rutscht mir weg. Schnell, holen sie das Team!«, faucht der Arzt die Schwester an.
Frank ist da. Ich sehe in weit aufgerissene Augen. Sie liegen feucht in einem verzerrten Gesicht. Schmerz hat seinen Ausdruck gefunden. Eine Aura der Ohnmacht und Fassungslosigkeit umgibt diesen entwaffneten Menschen. So betrachte ich ihn gebannt. Ich bin auf der Suche.
Die strahlenden Augen, wo sind sie geblieben? Sie sind nicht zu erkennen. Verzweiflung hat jeden Glanz in zahlreiche Tränen zertrümmert. Das Glück haben sie aus dem Gesicht gewaschen.
Ich spüre kaum mehr etwas. Meine Furcht ist völlig von mir gewichen. Nur noch diesen hilflosen Menschen sehe ich. Er blickt unsicher auf mich herab. Meine Hand hält er. Sie kann ich nicht spüren. Seinen Duft nur noch einmal riechen können, das wäre es jetzt. Er ist mir ein Freund.
Eisige Kälte ist noch in mir. Sie breitet sich aus. Ich sehne mich nach seiner Wärme. Mein Leben fällt von mir ab. Deutlich kann ich es spüren. Zu schwer ist die Verletzung. Was mir nun bleibt, daß ist dieser Mensch und seine Verzweiflung. Ich sehe ihn an. Entsetzen und Furcht sind enttarnt.
Von mir gewichen sind sie, nun bei ihm und in Fülle präsent. Sie sind Gefühle. Als Ausdruck des Lebens, so bietet er sie mir an. Was einst als Fluch der Sterbenden galt, das entdecke ich nun, als eine Gabe der Liebe. Im letzten Augenblick bin ich bereit für dich, mein Mensch und Hoffnungsträger.
Wie weich und warm sie doch sind, diese Tränen in deinem Gesicht. Tragen sie doch deine Zuneigung und Liebe zu mir. Du bist bei mir. Auf dem Pfad des Todes, dort folgst du mir ein kleines Stück. Unverkennbar ist die Verzweiflung und der Schmerz in deinem Ausdruck. Doch dieser Weg ist nicht für dich bestimmt.
Dieser Mut und diese Treue eines Freundes, sie berührt mich. Sie läßt mich die eisigen Schauer ertragen. Ich bin müde. Diese bleierne Müdigkeit, sie entfernt mich von dir. Kaum mehr nehme ich dich noch wahr. Die Zeit scheint nun gekommen zu sein. Wir müssen uns nun trennen. Kehre um und lebe. Ich habe dich lieben gelernt. Es ist ein Geschenk für die Ewigkeit. Verwahre es gut, mein Freund.
»Bitte gehen sie zur Seite. Wir müssen reanimieren.«
Frank wird aus dem Raum gedrängt. Er hatte von dem vermeintlich Unbekannten aus dem Wald in der Tageszeitung gelesen. Eine kleine Randnotiz war es nur gewesen. Doch Frank hatte sofort gewußt, wer hier gemeint war. So hatte er sich beeilt, sogleich in die Klinik zu fahren, um David beizustehen.
Nachdem sich die Tür zu David geschlossen hat, sieht Frank seinen Freund David niemals wieder. David hat einfach so aufgehört, zu leben. So sehr sich die Ärzte auch bemühen, sie können diesen unerklärlichen Willen der Natur einfach nicht brechen. Der unbekannte Patient, er stirbt.
David wird auf dem Armenfriedhof der Stadt beerdigt.
Der Tag ist ein wenig grau. Nur Frank erscheint bei der Beerdigung. Ihn erschüttert es sehr, daß ein so warmherziger Mensch, wie David es war, niemanden hat, der um ihn trauert. Es ist auch nur eine kleine und recht schmucklose Urne, die in den Boden gelassen wird. Ein kurzer Abschied. Nun hat David wohl endlich seine Freiheit gefunden.
Frank jedoch, er möchte ein neues Leben beginnen. Er zieht aus der Stadt weg. Diese aufrichtige Freundschaft zu David, so kurz sie auch gewesen sein mag, sie gibt Frank neuen Mut. Er möchte sich seiner Homosexualität stellen und nach einer neuen Liebe und etwas Glück im Leben zu suchen. Sollte es auch nur einen einzigen Menschen geben, für den er so viel empfinden würde, wie für diesen ungewöhnlichen Hetero David, dann hätte sich der ganze Aufwand schon gelohnt. Nur einen einzigen echten Freund zu finden, das ist jede Mühe wert.
Als die Dämmerung anbricht, läßt Frank das Grab von David hinter sich. Nur noch einiges Mal dreht er sich noch einmal zu seinem Freund um. Einen kurzen Augenblick lang meint er, eine winzige schimmernde Kugel über Davids Grab hinweghuschen zu sehen. Doch es dämmert bereits erheblich. Sicherlich haben ihm seine Augen nur einen Streich gespielt.
Autor: © Alexander Rossa 2019
Ein wenig Zeit vergeht. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Ich sitze noch immer auf dem alten Baumstumpf. Mir ist inzwischen etwas kalt. Über Frank habe ich nun eine Menge nachgedacht. Eine richtige Entscheidung ist es gewesen, daß er gegangen ist und ich geblieben bin. Nun warte ich auf Erja. Auch aus diesem Grund war es wohl eine richtige Entscheidung gewesen. Es ist nicht leicht zu sagen was wohl geschehen wäre, würden sich Erja und Frank begegnet sein. Doch das Risiko, mir meine wichtige Beziehung mit den Ljósálfar zu versauen, das war mir einfach zu groß. Aber nun hat sich alles doch zum Guten gewendet. Erja wird kommen. Ich vermisse sie bereits sehr.
Mir ist ganz kalt, als ich meine Augen öffne. Ich muß tatsächlich eingeschlafen sein. Wann ich mich neben den alten Baumstumpf gelegt habe, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls ist es jetzt vollkommen dunkel im Wald. Das Wetter ist schlecht. Es regnet ein wenig. Dieses leise Rauschen vom Regen, es hat mich wohl aufgeweckt. Von den Ljósálfar oder Erja ist nichts zu sehen. Stöhnend stehe ich vorsichtig auf. Jeder Knochen und jedes Gelenk in mir scheinen zu schmerzen. Jedenfalls fühlt es sich so an. Mein Kreislauf ist zudem noch völlig im Keller.
»Guten Abend. Können Sie sich ausweisen?«, höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehe, sehe ich drei Männer. Einer der Männer schaltet seine Taschenlampe ein. Es sind drei Polizeibeamte. Nun kann ich sie deutlich erkennen.
»Nein, kann ich nicht. Ich lebe hier. Sie haben mich geweckt.«, antworte ich mürrisch.
»Das tut uns leid. Aber uns liegt eine Meldung vor, dass hier zwei verdächtige Männer herumlungern und wild campen würden. Also können Sie sich nun ausweisen, oder nicht?«
»Wie ich ihnen schon versucht habe mitzuteilen, kann ich mich nicht ausweisen. Ich gehöre nicht mehr zu ihrer Welt und habe daher auch keinen Ausweis. Mit den Menschen möchte ich nichts mehr zutun haben.«
»So, so, das ist ja interessant. Trotzdem müssen wir wissen, wer sie sind und prüfen, ob etwas gegen sie vorliegt. Bitte folgen Sie uns auf die Dienststelle. Geht das mit uns zusammen hier so klar, oder werden Sie uns Schwierigkeiten bereiten?«
»Ich habe nichts mehr mit ihrer Welt zutun. Ihre Gesetze, das System, einfach alles ist nicht Teil meiner Welt. Daher habe ich auch keinen Ausweis und ebenso kein Geld. Sie haben nicht das Recht, mich einfach mitzunehmen. Ich bin ein freier Mann.«
Zwei der Polizisten sehen sich kurz an. Einer meint dann zu mir: »Sie wissen, dass das nicht so sein kann. Sie wissen das. Wir wissen das. Also folgen sie uns bitte freiweillig, oder wir müssen sie gegen Ihren Willen mitnehmen.«
Der dritte Polizist steht bereits hinter mir. Gegen diese drei Männer habe ich kaum eine Chance. Also entschließe ich mich, doch mit ihnen zu gehen. Vielleicht lassen sie mich rasch wieder laufen, und ich kehre schon bald zurück zu dieser Lichtung. Sperren sie mich ein, werde ich wohl nicht mehr lange leben. Diese Welt der Menschen, sie ist Vergangenheit für mich geworden. Doch wenn ich mich jetzt nicht füge, dann sperren sie mich ein. Wenn ich zuviel erzähle, dann stellen sie mich mit Tabletten ruhig und schalten meinen Verstand aus. Ich muß mich also fügen, ob ich es nun möchte, oder nicht. Freiheit kennen sie nicht.
Wir gehen gemeinsam zuerst auf einen Waldweg. Sie sprechen dabei kaum mit mir. Einer flucht ein wenig. Ihm ist es zu finster. Er sehnt sich nach der warmen Wache und nach einem heißen Kaffee. Dem Weg folgen wir, bis auf einen Parkplatz. Dort steht der Polizeibus. Sie schieben mich auf eine Rückbank.
Während der Fahrt, sehe ich aus dem Fenster. Meine Stirn habe ich seitlich an die kalte Scheibe gelehnt. Einer der Beamten sitzt mir gegenüber. Er fragt mich immer wieder nach meinem Namen und meinem tatsächlichen Wohnort, also wo ich denn eigentlich gemeldet sei. Ich antworte ihm nicht, sehe einfach nur aus dem Fenster. Ich fühle mich schlecht. Heulen könnte ich. Warum lassen sie mich nicht einfach so leben, wie ich es mag? Wem schade ich denn damit, im Wald bei Erja zu sein? Es ist doch mein Leben. Die Ljósálfar haben meine Entführung aus dem Paradies sicherlich mitverfolgt. Mir geht es nicht gut. Dann fragt der Beamte mich nach meinem Alter und dem Geburtsort. Der Mann ist mir egal. Er schüttelt nur fassungslos seinen Kopf. Die Polizisten haben nichts von mir. Meine Taschen haben sie durchsucht. Ich hatte natürlich nichts bei mir. Nur ein alter, schmutziger und stinkender Mann, das bin ich. Ich bin ein Landstreicher, das werden sie wohl annehmen. Das ist verboten. Es ist verboten, sich für das wenig Freiheit zu entscheiden, die man in diesem Land eventuell noch finden kann. Wer sind sie schon, dass sie mich zu ihrer Art Leben zwingen? Machthaber, Diktatoren und Gewaltherrscher sind sie, das weiß ich nun.
Auf der Wache angekommen, verhören sie mich weiter. Einen Kaffee weise ich jedoch zurück. Das viele Licht der Stadt, ich lehne es ab. Mir brennt es in den Augen. Zudem ist überall Lärm. Nach meiner Zeit im Wald, quält es mich nun ganz besonders. Die Menschen brauchen den Lärm, um sich von der Stille abzulenken. Stille bedeutet, mit sich selbst allein zu sein. Sie erzwingt die Auseinandersetzung mit sich selbst. Ohne Licht und Lärm, da entdeckt man sich als Mensch. Diese schlichte Selbsterfahrung meiden viele Menschen. Sie erkennen dabei plötzlich eine fremde, angreifbare Kreatur, die sie selbst sind. Das alles verängstigt sie. Unsicherheit zieht bei ihnen ein.
Die Beamten fragen und fragen. Doch ich habe keine Antworten für sie. Ich fühle mich dünnhäutig und überall entzündet. Im Wald auf der Lichtung, während meiner guten Zeit dort, da habe ich vom süßen Honig gekostet. Was vorher noch etwas bitter war, das ist für mich nun ungenießbar geworden.
Nach einigen Stunden finde ich mich in einer Zelle wieder. Sie ist karg und fast vollkommen leer. Mir gefällt sie jedoch besser, als der Rest der Wache und die Stadt. Ich bin alleine. Endlich bin ich wieder alleine. Menschen sind nicht um mich herum. Keiner fragt mich mehr, oder will etwas von mir. Ich weiß noch nicht, was sie mit mir anstellen werden. Jedoch ahne ich, daß ich wohl nicht so schnell wieder in den Wald kommen werde. Einfach bei der nächsten Gelegenheit fliehen ist auch sehr schwierig und der Ausgang einer Flucht, er ist ungewiß. Sie würden mich suchen, mir nachstellen und mich rasch finden. Es ist eben ein Verbrechen, frei sein zu wollen. Du mußt ihr Leben leben, ihr Essen essen, mit ihren Scheinen und Münzen bezahlen. Vermeidest du Licht und Lärm, dann bist du absonderlich, eine Gefahr und unter dem ständigen Verdacht, mit dem Bösen einherzugehen.
Ich habe plötzlich Angst. Der Blick auf meine Zukunft wird allmählich frei. Da ist jedoch nicht viel. Was dort noch ist, es wird endgültig sein. Ich erkenne etwas, was man nicht anfassen und nicht sehen kann. Die Zukunft liegt in mir. Sie ist dabei nicht mehr, als nur eine einfache Entscheidung. Doch die Klarheit mit der ich sie plötzlich erkenne, sie erfüllt mich mit Grauen. Ich denke kurz darüber nach, warum die Polizei mich gefunden hat. War es Frank, der mich vielleicht verraten hat? Nein, glauben möchte ich das nicht. Frank hatte verstanden, worum es mir ging. Er ist ein guter Junge.
Es vergeht einige Zeit, bis sich die Tür zu meiner Zelle wieder öffnet. Man bringt mich fort. Wieder in den Polizeibus und wieder eine Fahrt durch die abscheuliche Stadt. Erneut blicke ich wortlos aus dem Fenster. Wir fahren auf das Gelände eines Krankenkauses. Offenbar wissen sie nicht, was sie sonst mit mir anstellen sollen. Sie liefern mich in der Psychiatrie ab. Da sollen die Ärzte wohl versuchen, etwas aus mir heraus zu bekommen. Man nimmt mich nett und falsch in Empfang. Aber dennoch bemerke ich, dass ich auch hier nicht einfach weggehen kann. Ich kann nicht fliehen. Doch warum muss ich überhaupt fliehen? Man möchte mich nur von der Bildfläche verschwinden lassen. Aus dem Blick, aus dem Sinn, so heißt es doch.
Man untersucht mich. Eine junge Frau sitzt mir gegenüber. Sie lächelt mich an. Es ist ein widerliches Lächeln. Ich kenne dieses aufgesetzte Lächeln bereits. Es ist das typische Joblächeln. Sie verdient ihr Geld damit, ihre Patienten anzulächeln und ihre vorgefertigten Fragen zu stellen. Eine blutjunge Frau ohne Lebenserfahrung wird über mich, den vierzig Jahre alten Mann ohne Namen, urteilen. Das baut mich just nicht wirklich auf. Ich habe dieses ganze System der Menschen einfach nur satt. Das ist kein Geheimnis. Warum werde ich hier unter Verschluß gehalten und muß mich rechtfertigen? Niemandem habe ich Schaden zugefügt. Keine Kosten habe ich verursacht. So bleibe ich bei meiner Taktik, einfach nicht mehr zu sprechen. Es gibt nichts, was ich mit den Menschen hier zu besprechen hätte. Nicht eine Unze mehr wert sind sie, als ich es bin. Sie sollen mich nur endlich freilassen.
Die Nacht ist schrecklich. Sie prüfen immer wieder, ob ich brav schlafe. Schlafe ich nicht, muß ich Tabletten nehmen, um endlich zu schlafen. Es ist entwürdigend. Ich leide mit jedem weiteren Augenblick meiner Gefangenschaft. Die Kunstblumen auf dem Tisch, die sind mir wirklich kein Trost. Das Abendessen habe ich verschmäht. Abgepacktes Essen auf Plastikgeschirr ist ekelhaft. Mir ist ohnehin schon übel. Bett, Tisch und Schrank, alles ist unpassend für mich und wirkt auch mich geradezu grotesk. Als wäre ich eine kleine Puppe in einem winzigen Puppenhaus, so fühle ich mich. Wenn nicht bald etwas geschieht, dann muß ich mich für meinen Pfad der Zukunft entscheiden.
Gegen 3 Uhr am Morgen nehme ich plötzlich den Geruch von duftenden Blumen wahr. Die Plastikblumen können es eher nicht sein. Ich hebe meinen Kopf und sehe zum Fenster. Eine helle Kugel, sie ist nur ganz winzig, tanzt vor der Scheibe auf und ab. Dann schwebt sie einfach durch das Glas hindurch und ist bei mir im Raum. Sofort kommt mir der Gedanke, das es die Ljósálfar sind. Sind sie mir zu diesem unwirtlichen Ort gefolgt? Vielleicht ist es Erja, die mich sucht. Ich hoffe es insgeheim. Dann nehme ich dieses schrille Pfeifen wahr, das ich von Erja bereits kenne. Ich konzentriere mich, wie ich es gelernt habe. Mir geht es nicht gut. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Doch allmählich erkenne ich die Stimme Erjas in dem Geräusch. Immer deutlicher verstehe ich sie.
»David, warum hast du mich verlassen? Du bist diesen seltsamen Menschen gefolgt. Ich vermisse dich.«
»Erja, du bist hier? Ich war schon ganz davon überzeugt, dich verloren zu haben. Die Menschen haben mich gefangen. Sie geben mich nicht wieder frei. Es wird mir wahrscheinlich kaum mehr möglich sein, zu unserer Lichtung zu gelangen.«
»Warum handeln die Menschen so? Sind sie so sehr voller Wut gegen dich?«
»Sie sind nicht voller Wut. Sie dulden nur keine echte Freiheit für die Menschen. Man muß sich ihren Systemen unterordnen. Folgt man dieser Regel nicht, so wird man eben dazu gezwungen. Nur wer ihnen und ihren Regeln folgt, der ist für sie ein mündiger Mensch. Sie können nicht anders.«
»Dann verlasse dieses Zimmer, dieses Haus und die Stadt doch einfach, David. Sie werden dich schon nicht gleich töten, oder?«
»Du verstehst nicht, Erja. Sie würden mich immer wieder zurückbringen. Würde ich dann mit Gewalt fliehen, täten sie mich wohl tatsächlich irgendwann verletzen, womöglich auch töten. So sind sie eben, die Menschen.«
»Sie haben sich in all den Jahrhunderten nicht verändert. Menschen lernen nicht kultiviert. Sie lernen nur sehr schwer und immer wieder nur durch wiederholtes Leid und Entbehrungen, jedoch keinesfalls durch Einsicht und Vernunft. Dich hier eingesperrt zu sehen, das erschüttert mich, mein lieber David.«
»Du kannst mir nicht helfen, Erja. Ich muß mich entscheiden. Wähle ich die Freiheit, dann werde ich sie nicht mehr als Mensch finden und leben können. Eine andere Option sehe ich leider nicht mehr für mich. Ich werde mein Dasein als Mensch aufgeben müssen. Ich bin in eine Zeit hineingeboren worden, in die ich einfach nicht gehöre. Für die Menschen bin ich nur eine Laune der Natur, eine auszuradierende Krankheit und eine subtile Bedrohung. Ohne Namen, Unterordnungswillen und Ausweis werde ich als Mensch einfach ausgewiesen. Wo soll ich denn nur hin? Habe ich kein Recht auf ein Leben in dieser Welt? Ei, Samenzelle und Nabelschnur waren doch nicht im Wesentlichen anders beschaffen als all jene, der anderen Menschen. Oder doch?«
»Mein lieber Freund, es findet sich die Anlage zum Begreifen der wahren Freiheit in jedem Menschen. Nur bei manchen Menschen, da erscheint die Blüte dieser Pflanze bereits schon im Winter. Sie ist zu dieser Zeit eine erste Ahnung, nur ein Omen, für die vielen anderen Wesen der Welt, daß ein großes Blütenmehr im Frühling naht. Jedoch im Winter, da ist die Blütezeit für diese frühen Blüten immer nur von kurzer Dauer. Kaum eine von ihnen erreicht den Frühling.«
Ich verstehe gut, was mir Erja damit zu sagen möchte. Jede Idee hat ihre Zeit. Auch wenn ich in diese Zeit gehöre, da ich in sie hinein geboren wurde, so sind meine Gedanken nur jene frühe Blüten im Winter. Ob es nur die Hoffnung Erjas ist, kann ich nicht sagen. So lange schon leben die Ljósálfar verborgen und heimlich an unserer Seite. Doch auch wenn Erjas Anwesenheit ein Trost für mich ist, so stehe ich nun vor einer persönlichen Entscheidung. Sie ist unausweichlich, und sie ist Wahrheit. Es mag sein, daß Erja eben wegen dieser Wahrheit bei mir ist. Ljósálfar sind Arbeiter im Weinberg der Wahrheit. Wahrheiten sind ihr Lebenssinn. Doch für mich ist diese Frage nur von geringer Bedeutung. Es geht für mich und mein Sein nur um diese eine einzige und entscheidende Wahrheit.
Ich entscheide mich für die Freiheit.
Autor: © Alexander Rossa 2019
Die Zeit vergeht erstaunlich schnell, wenn man sich erst einmal frei fühlt. Es sind inzwischen einige Tage vergangen. Ich bin jedoch ziemlich schwach. Zu wenig Nahrung gibt es hier für mich. Die heutigen Wälder, sie sind tatsächlich karg und überlebensfeindlich geworden. Es ist ein Glück, daß ich frischen Wasser in der Nähe habe. Einige Tage kommt man im Wald gut klar, wenn man Wasser hat und sich gut auskennt. Mit der Zeit jedoch, da geht einem Menschen die Kraft verloren. Auch wenn die Natur mich mit einer gewissen Härte aufgenommen hat, so ist sie gleichzeitig auch voller Güte und unvergleichlicher Schönheit. Für mich wäre die Rückkehr in die alte Welt keine Option. Wenn ich hier im Wald sterben werde, dann soll es eben so sein. Die alte Welt, sie hat mich des Lebens müde werden lassen. Diese Welt hier, sie schenkt mir das Gefühl, endlich angekommen zu sein.
Nach einer bewegten und interessanten Nacht mit Erja und den Tieren, liege ich auf dem weichen Waldboden und schaue dem Sonnenaufgang zu. Endlich ist sie wieder da, die wundervolle Sonne. Die letzten beiden Tage war sie hinter dichten Wolken verborgen. Leichter Nieselregen hat meine Sachen feucht und klamm werden lassen. Ist Erja bei mir, dann leide ich nicht unter der Kälte. Erja neutralisiert jedes Leid in mir. Es sind nur Körpersignale, die sie dann einfach nicht mehr zu meinen Gedanken vorläßt. Zu wichtig sind unsere Gespräche und unser Austausch zwischen Mensch und Lichtwesen. Erst wenn sie mich in den frühen Morgenstunden wieder verlässt, bleibe ich in meiner fleischlichen Hülle allein zurück. Nur selten ist sie mir auch bei Tag ganz nahe. So bin ich also auch heute ganz alleine und freue mich über den Anblick der Sonne. Meine Gelenke schmerzen. Ich werde später wohl wieder einige Zeit damit zubringen müssen, mir einige Zecken aus der Haut zu ziehen. Gerade als ich jedoch versuche, meine Augen noch für einige Augenblicke zu schließen, höre ich ein Geräusch, welches einfach nicht an diesen Ort gehört. Sofort bin ich hellwach. Menschen?!
Ich krieche hinter den breiten Baum in meiner Nähe, um nicht sogleich entdeckt zu werden. Inzwischen sind mir die Geräusche des Waldes sehr vertraut. Dieses Rascheln jetzt, es ist mir fremd. Ich warte ab und rege mich nicht. Vielleicht entfernt sich dieser Mensch wieder. Hoffentlich bemerkt er mich nicht.
Die Schritte nähern sich. Nein, eigentlich ist es mehr ein unbeholfenes Stampfen im Laub, das ich höre. Plötzlich ist es jedoch verstummt. Ich höre es nicht mehr. Vorsichtig sehe ich an dem Baumstamm vorbei in jene Richtung, aus der ich den Menschen meine, gehört zu haben.
Zunächst erkenne ich nichts Ungewöhnliches. Kein Lebewesen ist zu sehen. Erst als ich ganz genau hinsehe, entdecke ich ihn, den Menschen. Es ist eine junger Mann. Vielleicht halb so alt wie ich ist er wohl. Auf einem vermoderten Baumstumpf sitzt er. Ziemlich mitgenommen wirkt der Kerl. Seine Augen sind rot, als hätte er viel geweint. Dann höre ich ein Schniefen. Also heult er wohl noch immer. Seinen Kopf legt er zwischen seine Arme, welche er auf seinen Knien abgestützt hat. Das rechte Bein zittert nervös. Was mag nur mit ihm los sein? Es kann gut angehen, daß ihn die Traurigkeit und das Bedürfnis alleine sein zu wollen, in diesen Wald getrieben hat. Seltsam finde ich nur, daß er dazu so sehr weit in den Wald gegangen ist. Das ist ungewöhnlich, sehe ich einmal von mir selbst ab.
Es vergeht eine Weile. Ich beobachte ihn. Es ist zu hoffen, daß er bald wieder verschwindet. Doch er bleibt einfach nur dort sitzen und ist tief in seinen Gedanken versunken. Wenn er weiterhin dort sitzen bleibt, dann verschreckt er womöglich noch die Ljósálfar. Das darf nicht geschehen. Ich bin spontan etwas besorgt. Die Sonne senkt sich bereits etwas. Der Abend naht. Der Kerl muß einfach verschwinden. Groß genug ist er ja, der Wald, so daß es sicherlich auch noch andere vermoderte Bäume gibt, auf denen man heulen kann.
Ich beobachte ihn weiter. Dann kann ich es plötzlich selbst nicht fassen, solche Gedanken gehabt zu haben. Immerhin hat dieser arme Kerl ebenso das Recht hier zu sein, wie ich selbst auch. Es ist nur meine tiefe Abneigung gegen die Menschen, die mich so denken läßt. Diese Gedanken belegen letztlich nur meine Verbitterung. Doch in dem Augenblick, in dem ich meine Freiheit verteidigen muß, bin ich bereits nicht mehr frei. Ich beschließe daher, mich der Herausforderung zu stellen und den Typen anzusprechen. Das muß unbedingt noch geschehen, ehe es dunkel wird. Also erscheine ich vor meinem Baum und warte ab, was passiert. Doch der Kerl, er bemerkt mich nicht. Viel zu tief ist er in seine Gedanken versunken.
Fokus der Kerl:
Die Tränen wische ich mir weg. Alleine bin ich hier im Wald. Ich sitze nun hier auf diesem Baumstumpf und möchte nicht wieder zurück. Mich versteht ohnehin niemand. Mein Chef hat mich neulich entlassen, weil ihm Kollegen zugetragen haben, daß ich schwul bin. Eine ganze Weile lang hat er jeden noch so kleinsten Fehler bei mir gesucht und alles gesammelt, nur um mich loszuwerden. Dabei meinen wir doch in dieser tollen Gesellschaft, so sehr aufgeklärt und tolerant zu sein. Lächerlich. Mein Chef jedenfalls, der haßt schwule Menschen. Für ihn sind wir alles nur kranke Tucken. Nach meinem Rauswurf zog ich mich zurück. Ich traute mich kaum mehr unter Menschen. Die Enttäuschung über meine Kollegen und meinen Chef, sie war einfach zu groß. Das hat mir richtig viel Leid zugefügt. Es gab dann auch immer wieder Ärger mit meinem Schatz. Probleme sind Gift für Beziehungen. Er konnte nicht verstehen, daß ich mich von solchen Leuten so leicht unterkriegen lasse. Ihn zog es derweil ins Nachtleben. Er wollte nach Feierabend eben noch Spaß haben und nicht nur frustriert in der Wohnung sitzen. Dann gab es den berühmten großen Knall zwiechen uns. Er hat mich verlassen. Vielleicht hat er auch einen anderen Typen kennengelernt. Ich war ihm wohl nicht mehr gut genug. Jetzt sitze ich eben hier im Wald und sehne mich danach, meinem freudlosen Leben ein Ende setzen zu können. Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Meine Arbeit ist verloren und meine Liebe ist zerstört. Zudem habe ich kein Geld mehr, um einigermaßen in einer derart feindlichen Welt überleben zu können. Ich habe es so satt, den Menschen gefallen zu müssen. Es ist eben so, wie es ist: Ich bin schwul. Bin ich deshalb ein schlechterer Mensch, arbeite ich schlechter oder überfalle ich deshalb alte Damen bei Nacht?
Plötzlich höre ich ein leises Rascheln. Ich blicke auf und sehe einen Mann direkt vor mir stehen. Vor Schreck falle ich fast von meinem Baumstumpf. Ich habe seine Annäherung nicht bemerkt. Er muß sich angeschlichen haben. Der Kerl ist schmutzig, nicht rasiert und stinkt furchtbar. Er ist ein Wilder. Ich habe Angst vor ihm. Ganz alleine bin ich mit diesem Ungetüm von Mann. Hoffentlich will er nichts von mir oder bringt mich um. Das ist Irrsinn. Soll er mich doch ruhig umbringen.
»Wa...Was wollen Sie?«, stottere ich nervös und versuche mein völlig verträntes Gesicht mit den Ärmeln meiner Jacke zu trocknen.
Fokus David:
»Das wollte ich dich gerade fragen.«, meine ich und gehe einen Schritt zurück. Ich bemerke, daß dieser junge Kerl offenbar Furcht vor mir hat.
»Ich sitze nur hier, weil ich allein sein möchte. Das geht Sie zudem überhaupt nichts an.«
»Doch, das geht es mich sehr wohl. Diese Lichtung hier, sie ist mein Zuhause. Du befindest dich sozusagen mitten in meinem Wohnzimmer.«
Der junge Mann sieht mich erstaunt an, dann unsicher um und setzt sich wieder auf den Baumstumpf. Seine völlig verschmutzten Hände versucht er durch Klatschen seiner der Hände, etwas vom Waldboden zu befreien.
»Wie kann man hier wohnen? Sie sind verrückt, oder was?«
»Vielleicht bin ich das. Doch ich bin der Welt der Menschen überdrüssig geworden. So wohne ich nun hier in der Natur.«
»Also bist du ein Obdachloser, so eine Art Penner? Sag' das doch gleich.«
Fokus der Kerl:
Kaum haben diese Worte meinen Mund verlassen, bemerke ich plötzlich, daß ich den Fremden geduzt habe. Nur weil er ein Obdachloser ist, habe ich mir die Freiheit erlaubt, ihn nicht mehr zu Siezen und damit keinen Respekt bekundet. Allerdings duzt mich der Fremde doch auch. Dann darf ich das ebenfalls.
»Mir ist es völlig egal, wie du mich siehst. Offenbar bist du auch nicht gerade mit der Welt im Reinen. Ich beobachte Dich schon eine ganze Weile. Glücklich scheinst Du wirklich nicht zu sein. Übrigens ich bin David.«
Fokus der Kerl:
Ich sehe diesen David einen kurzen Augenblick sprachlos an.
»Hallo, David, ich bin Frank. Schön, dich kennenzulernen.«, meine ich dann plötzlich zu David. Sie teilen sich immerhin ein seltsames Schicksal hier im Wald. Mir scheint es da vernünftiger zu sein, den Brückenschlag von David zu vollenden.
»Darf ich mich zu dir setzen, Frank?«, frage ich und zeige dabei auf die freie Fläche auf dem Baumstumpf neben Frank. Ich bemühe mich sehr, freundlich zu sein und dabei zugleich natürlich zu wirken. Jedoch hoffe ich noch immer, diesen Eindringling schnell wieder loszuwerden. Ich kann es einfach nicht zulassen, daß dieser Frank meine Beziehung zu den Ljósálfar stört. Frank ist ein Mensch. Soll er doch verschwinden und wieder zu den anderen Bestien seiner Art gehen.
»Gerne, David. Aber dir ist schon klar, daß du eine ziemlich strenge Duftnote an dir hast, oder?« Ich zwinge mich zu einem kurzen und wie Gebell wirkenden Auflachen, um meinen scherzartigen Aspekt dieser Bemerkung damit zu kennzeichnen. Immerhin bin ich ganz alleine mit diesem stinkenden Schmutzfink in dieser Ödnis. Nicht einmal in seiner tiefsten Verzweiflung kann man heute offenbar alleine sein, um in Ruhe über den Freitod nachzudenken. Da kommt plötzlich so ein Wilder und nervt einfach nur.
Ich setze mich zu Frank auf den alten Baumstumpf. Es ist schon ein seltsamer Platz hier im Wald. Ich sitzt so nahe an Frank, daß ich ihm am liebsten, meinen Arm um die Schulter legen würde, um bequemer sitzen zu können. Doch dieser junge Kerl, dem es offensichtlich ziemlich schlecht geht, ist mir immerhin völlig fremd. Sicher würde Frank so eine Geste für eine blöde Anmache halten. Das würde zudem schon ziemlich schwul wirken. Außerdem sagt er doch auch, ich würde stinken. Also sitze ich nun dann doch lieber unbequem neben diesem jungen Kerl, der offenbar ziemlich fertig mit der Welt ist. Tolle Situation ist das. Meine Laune hat einen Tiefpunkt erreicht.
»Was treibt dich an diesen einsamen Ort, Frank? Offenbar geht es dir nicht so gut.«, versuche ich, mehr von ihm zu erfahren.
»Ich habe das Leben einfach nur satt. Job verloren, Freund verloren, kein Geld mehr, um vernünftig leben zu können.«
»Ja, das klingt nicht so gut. Doch Arbeit kann man sicher leicht eine neue finden. Dann stimmt es auch wieder mit dem Geld. Deshalb braucht man doch nicht gleich den Kopf hängenlassen.«
»Eigentlich hast du recht, wäre da nicht noch der Umstand, daß ich schwul bin und mich zu Männern hingezogen fühle. Ich bin es müde geworden, mich ständig rechtfertigen und gegen Anfeindungen wehren zu müssen. Es gibt einige Menschen, die stecken diese geistlosen Spitzen in Gesprächen und die ständigen Beleidigungen einfach so weg. Doch ich leide darunter sehr und immer wieder neu. Ich bin so geboren worden. Warum muß ich mich wieder und wieder dafür rechtfertigen? Ich möchte doch nur so sein, wie ich von Natur aus bin und frei leben können?«
Ich bin überrascht von der Wut, mit der Frank mir diese Wort an den Kopf wirft und froh darüber, meinen Arm nicht um Franks Schulter gelegt zu haben. Das wäre wohl das falsche Signal gewesen. Also sitze ich mit einem depressiven Homosexuellen im Wald, obwohl ich mich eigentlich auf meine Erja vorbereiten wollte. Das kann ich nun wohl vergessen. Allerdings faszinieren mich Franks Wort auch ein wenig. Hier haben sich also zwei Fremde mitten in der Wildnis getroffen, die beide an dieser scheinbar so sehr zivilisierten Welt der Menschen, zu zerbrechen drohen und nach Freiheit suchen. Das ist schon ein wenig ungewöhnlich, wie ich finde.
»Ich selbst habe nichts gegen Schwule, Frank. Viele Menschen sind eben in der heutigen Zeit sehr oberflächlich und nur so lange tolerant, wie es ihnen selbst keine wirklichen Mühen bereitet oder sie nicht selbst betroffen sind. Das ist zum Kotzen und scheinheilig. Seit vielen Jahren beobachte ich bereits den Verlust an Mitgefühlsfähigkeit. Vor allem bei den Menschen der moderneren Gesellschaften grassiert offensichtlich eine Art Virus, das jegliche Empathie vernichtet und nur noch Verrohung hinterlässt. Mich wundert es nur wenig, daß ein sensibler Frank daran zerbrechen kann.«
Davids Worte beruhigen mich etwas. Wer ist dieser Kerl nur? Sieht man vom Schmutz und Gestank ab, dann ist David eigent,ich ein sehr netter Typ. Ich mag seine direkte und offene Art.
»Ach, David, man wird mit der Zeit dieser Dinge einfach nur müde. Es schmerzt sehr zu beobachten, wie anderen Menschen alles Gute einfach nur so zufällt, während man selbst um kleinste Fragmente Normalität kämpfen muß. Auch ein möglichst unauffälliges Dasein bedeutet, unfrei zu leben.«
»Hast du denn keine Familie oder jemanden, der zu dir steht? Vielleicht Freunde?«
»Ja, ich kenne eine Menge Leute, guter David. Viele wollen nur ihren Spaß und sind zumeist nur an Sex interessiert. Doch richtige Freundschaft ist da eher selten. Für meine Eltern bin ich eben nun einmal da, mehr aber auch nicht. Als ich in die Pubertät kam, da haben sie immer wieder versucht, mir Freundinnen zu verschaffen und mir irgendwelche Beziehungen zu Mädchen anzudichten. Sie hatten es damals schon geahnt, daß ich mich mehr für Männer interessieren würde, als für Frauen. So hatte ich immer wieder viele Mädchen um mich herum. Es ist offensichtlich schick, einen Schwulen in der Clique zu haben. Für eine gewisse Zeit war man dann nur eine Art Exot. Das war zunächst wirklich spannend für mich, aber wurde allmählich, zu einer echten Last. Irgendwann hatte mich dann meine Mutter knutschend mit einem Mann in der Stadt gesehen. Da war sie, ihre Katastrophe. Das war es dann leider auch schon mit meinen Eltern. Der Vorhang schloß sich. Mit hochroten Köpfen haben sie am folgenden Abend versucht, zivilisiert mit mir die Angelegenheit zu besprechen. Ein heftiger und für mich schmerzhafter Streit wurde daraus. Er endete damit, daß ich nach einer Woche zu meinem Ex-Freund zog, weil ich es nicht mehr bei meinen Eltern aushielt. Seitdem herrscht Eiszeit zwischen uns. Du siehst also, es gibt keine Menschen, die wirklich zu mir stehen. Würde ich heute sterben, dann wäre es allen wahrscheinlich völlig egal. Mir bliebe nur noch die Möglichkeit, als Eremit im Wald zu hausen, so wie Du es offenbar bereits machst. Doch kann das der Sinn sein? Irgendwann kommen sie und holen dich wieder zurück. Dann stecken sie dich in die Nervenheilanstalt. Das war es dann. Diesen Stempel wirst du dann nicht mehr los.«
Ich weiß nur zu gut, daß Frank mit seiner Prognose recht hat. Allerdings hätte ich lieber auf diese deutliche Aussage von ihm verzichtet. Nach seinen Worten scheint es mir fast so, als wären sie beide zwei Aussätzige, die vor einer lärmenden Gesellschaftsmeute hergetrieben werden. Frank ist in einem schlechten Zustand. Er leidet sehr unter dieser ganzen Situation. Ich bin überzeugt, daß sich diese Stimmung bald auch auf mich übertragen wird. Zudem sehe ich meine wertvolle Beziehung zu den Ljósálfar in Gefahr. Allerdings verspüre ich auch Mitleid für Frank. Der junge Kerl sitzt hier im Wald, stets den Tränen nahe, ist völlig verzweifelt und innerlich fast aufgelöst. Ich möchte ihm nur zu gerne vermitteln, daß ich anders bin und ihn nicht für seine Homosexualität verurteile. Das dieses Thema in der heutigen Zeit noch so von Vorurteilen belastet ist, verärgert mich.
»Was machst du hier im Wald, David? Warum bist du nicht an Heim und Herd, sondern an diesem doch recht unwirtlichen Ort?«, fragt Frank.
»Ich bin hier, weil ich mich dafür schäme, ein Mensch zu sein. Mir ist die Welt der Menschen zu laut und zu verlogen geworden, als daß ich in ihr überleben könnte. Die Menschen schaden mir und werden mir mit der Zeit, den Tod bringen. Da bin ich mir sicher. Daher bin ich geflohen. Ich bin also nur ein Flüchtling, ganz ähnlich, wie auch du es bist.«
Es herrscht einen Augenblick betroffene Stille.
»Das ist also dein Heim, David? Eigentlich hast du es doch ziemlich schön hier. Man muß sich nur daran gewöhnen, so denke ich. Sicher verirren sich nur wenige Menschen hier in diesen Wald, oder?«
»Gelegentlich nähern sich Spaziergänger. Man kann diesen Umstand wohl nicht ändern.«
Inzwischen mag ich diesen stinkenden Mann. David ist eigentlich ganz mein Typ. Süß ist er, allerdings schon ein wenig alt. Doch er scheint mich wenigstens zu verstehen und meint es ehrlich. Ich fühle das.
»Von was lebst Du hier draußen? Du hast doch bestimmt Hunger.«
»Ich suche mir immer etwas im Wald. Frisches Wasser gibt es in der Nähe genug. Im Winter wird es da wohl deutlich schwieriger werden.«
»Du kannst nicht ewig hier draußen leben, David. Das weißt du doch, oder?«
»Ich muss. Die Freiheit ist mir wichtiger, als ein Leben unter dieser Art von Menschen. Sie töten mich jeden Tag ein wenig mehr, bin ich in ihrer Nähe.«
»Warum wanderst du nicht einfach aus? Es gibt sicherlich abgelegene Orte, an denen man alleine viel besser überleben kann.«
»Das hätte ich wohl auch getan, als ich noch jung war. Doch heute fühle ich mich schon zu schwach und zu alt, um irgendwo neu anzufangen.«
Ich empfinde für David Mitleid. Ich bin noch jung und gebe bereits auf. Da sitze ich hier jammernd und voller Selbstmitleid im Wald und könnte dabei einfach auswandern und irgendwo neu anfangen. Vielleicht finde ich irgendwo auf der Welt einen anderen Mann, den ich lieben kann. David ist ein netter, stinkender Kerl.
»Also bist du eigenetlich zum Sterben hier, David?«
»Vielleicht ist es so.« Ich muß mich räuspern. »Aber zunächst erfreue ich mich der neu erlangten Freiheit vom Menschen.«
Dieser Frank ist ein netter Junge. Doch er muss jetzt wirklich allmählich verschwinden. Zu wichtig sind mir die Begegnungen mit Erja, um diese zu riskieren. Doch ich kann Frank nicht einfach vertreiben. Ich könnte heulen. Warum muß er gerade hier frustriert sein und kann das nicht einige Kilometer weiter entfernt sein? Nicht einmal in diesem Wald läßt man mir etwas Ruhe und Freiheit, bevor meine Zeit gekommen ist. Damit ist Frank leider auch nur ein Mensch, wie es diese anderen Menschen dort in der Ferne sind, in ihrer scheinbaren Zivilisation.
»Ich wollte dir nicht zu nahe treten, alter Mann. Nur denke ich mir, daß du schon ein besseres Leben verdient hättest, als hier im Wald alleine zu hungern und zu frieren. Es ist nicht schön, wie die Menschen mit Ihresgleichen umgehen, nur weil sie eine andere Sicht der Dinge haben. Dabei gibt es nur wenige, die eine wirklich eigene Meinung haben. Viele Menschen leihen sich nur Meinunbgen aus, um diese situativ für sich einzusetzen und nachzuplappern.«
»Das ist wohl dann eher der Grund, warum wir beide hier sind. Eine Meinung zu verwenden ist für mich jedoch nur respektabel, wenn man sich diese selbst gebildet hat. Vielse dieser Leute jedoch, sie konsumieren andere Meinungen, als wären sie ein billiges Paar Schuhe. Für jede Gelegenheit wechseln sie diese, nur um bessere Außenwirkung zu erzielen. Sie verletzen damit und richten Schaden an, ohne das wirkliche Substanz hinter dem Gegurre ist. Fragt man nach, bohrt ein wenig, brechen viele sofort ein. Dann werden sie oft laut und ausfällig, versuchen sich aus dem Staub zu machen. Alles das, es ist sehr unschön.«
Unbequem ist es, mit Frank so eng gedrängt zu sitzen. Ich lege meinen Arm um ihn, um mehr Platz zu bekommen.
»Es ist besser so. Du hast doch nichts dagegen, oder? Aber nur nicht, daß du auf falsche Gedanken kommst.«
Ich grinse Frank an. Er lächelt nur. Mit einem Lächeln im Gesicht, da sieht der junge Kerl gleich wesentlich besser aus.
»Wir sollten aufbrechen. Ich denke es ist nicht gut, ewig im Wald zu bleiben, David. Wir sollten gehen und uns zukünftig gegenseitig stützen, um es mit diesen Menschen besser auszuhalten. Was meinst Du?«
Ich schüttle sogleich mit dem Kopf, als ich Franks Worte höre.
»Das ist keine gute Idee. Mein Leben bei den Menschen habe ich aufgegeben. Mich würde dort nur der baldige Tod erwarten. Da bin ich mir sicher. Bevor ich sterbe, da möchte ich zumindest ein wenig Zeit damit verbringen, das Gefühl von Freiheit zu erforschen. Das habe ich mir fest vorgenommen. Nein, Frank, ich werde nicht wieder in die Stadt gehen. Du bist wirklich ein netter Kerl. Vielleicht verbindet uns tatsächlich mehr, als nur diese Begegnung im Wald. Eventuell ist das sogar der Beginn einer echten Freundschaft. Doch ich werde niemals wieder zurück zu den Menschen gehen.«
»Wir kennen uns tatsächlich kaum. Doch mag ich dich, David. Gerne würde ich dir ein Freund sein. Uns verbindet wohl wirklich mehr, als nur diese Begegnung. Auch mir widerstrebt es, zurück zu dieser verrückten Menschenwelt zu kehren. Dennoch ist es die Vernunft, die mich dazu drängt, irgendwann wieder in die Stadt zu gehen. Ich kann mein ganzes Leben nicht in diesem unwirtlichen Wald verbringen. Es gibt hier kaum Nahrung, nur viel Kälte und Feuchtigkeit, dazu keinen Schutz vor dem Wetter...und den Menschen. Wir sollten aufbrechen, David. Ich bitte dich. Sie werden ohnehin bald kommen und mich suchen. Auch du wirst sicherlich schon vermißt.«
Ich sehe David auffordernd an. Dieser arme Mann wird hier sterben, lasse ich ihn einfach zurück. Er hat ein gutes Herz. Vielleicht ist er auch ein wenig verrückt. Das mag alles sein. Doch es muß einen Weg geben, ihm ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Das ist schon erstaunlich. Seit ich ihn kenne, da denke ich kaum mehr an meine eigenen Probleme. Sie erscheinen mir plötzlich sehr reduziert und nahezu zwergenhaft. Ich befasse mich kaum mehr mit dem Gedanken, von den Menschen verletzt worden zu sein. Davids Schicksal, es lenkt mich ab. Auf irgendeine Weise benutze also auch ich ihn nur. Auch wenn ich ihm nur Gutes wünsche, so ist es nur mein Wunsch, aber eben nicht seiner. Nur weil mir sein Wunsch ungewöhnlich und bizarr erscheint, wische ich ihn einfach so vom Tisch. Plötzlich fühle ich mich ertappt und ziemlich schäbig.
»Was ist los, Frank? Ja, wir beide werden diese Menschen hier zu uns in den Wald locken. Das erkenne ich nun auch. Offenbar habe ich diesen Umstand wirklich verdrängt. Sie werden uns natürlich irgendwann vermissen und uns schon bald suchen. Es darf niemand aus ihrem System einfach so ausbrechen. Daher ist es wohl besser, wir trennen uns nun rasch. Du gehst den Weg, den du gehen möchtest, ich eben jenen, den ich für mich gangbar halte. Was meinst du? Selbst wenn du zurück in die Stadt gehst, so wirst auch du sicherlich einen Weg finden, um doch wieder einigermaßen glücklich zu werden. Es ist keine Schande als schwuler Mann, andere Männer zu begehren. Ein Witz ist es, daß ich das betonen muss. Wenn es einen Fehler gibt, dann liegt er bei jenen Menschen, die das bis heute noch nicht begriffen haben. Sie sollten sich grämen, weinen und Selbstzweifel üben, aber doch nicht du...«
David Worte sind mir eine Wohltat. Ich fühle Aufrichtigkeit in ihnen. Er hat recht. Es ist nicht gut, wenn zwei Männer sich hier im Wald verkriechen und insgeheim hoffen, nicht entdeckt zu werden. Ich möchte auch sein Vorhaben nicht in Gefahr bringen. Er ist ein guter Mann und hat es sicher nicht verdient, hintergangen zu werden.
Dann stehe ich auf und streiche ich ihm sanft über den Kopf. David zuckt nicht einmal. Er läßt es sich gefallen. Es ist schön, daß es ihm nichts ausmacht.
»Also habe ich beschlossen, in die Stadt zu gehen. Wenn du nicht mitkommen möchtest, David, dann kann ich das gut verstehen. Es ist deine Entscheidung, die ich respektiere. Doch werde ich mich um dich sorgen. Du wirst frieren, kaum Nahrung haben, hier vielleicht sterben. Wie kann ich das alles zulassen und damit leben?«
»Indem du verstehst, daß mein Leben bereits verwirkt ist. Du schenkst mir die Hoffnung auf das Erleben von Freiheit und damit auch, auf etwas Glück. Ich weiß kaum noch, wie Glück sich anfühlt. Es ist so sehr lange her, Glück gefühlt zu haben, daß ich mich kaum mehr erinnern kann. Hier im Wald beginne ich, diese Empfindung allmählich neu zu erlernen. Was kann sich ein Mensch denn mehr wünschen?«
»Nun gut, so sei es. Dann werde ich jetzt aufbrechen. Ich danke dir für deinen warmherzigen Beistand. Hoffentlich ist es nicht schon zu spät. Es wäre schlimm, wenn du wegen mir Ärger bekommen würdest, David.«
Frank dreht sich um und entfernt sich langsam von mir. Nach einigen Metern dreht er sich erneut um und lächelt. Dann ruft er: »Ade, David. Freund!«
Ich hebe meinen Arm und winke Frank zurück. »Ade, Freund!«, rufe ich leise, jedoch auch etwas nachdenklich, zurück. Dieser junge Kerl, er sieht so angreifbar aus, wie er dort zwischen den Bäumen seine Weg sucht. Ein Wiedersehen wird es wohl kaum geben. Dann verfolge ich, wie sich mein neuer Freund immer weiter von der Lichtung und mir entfernt. Dann ist er nicht mehr zu sehen.
Etwas Wehmut spüre ich in mir. Ich habe Frank wirklich lieb gewonnen, wie es scheint. Ein guter Junge ist er. Doch ist er wirklich ein Freund? In unserer heutigen Zeit wird der Begriff Freund recht inflationär gehandelt. Es wäre sicher sehr schön, würde er ein Freund sein. Ob Frank eine gute Prognose in Gesellschaft dieser Menschen hat, kann ich nicht sagen. Wünschen würde ich es ihm von ganzem Herzen. Er hat es verdient. Daher ist es auch besser, unsere Wege trennen sich hier. Meine Welt, sie würde ihn doch nur verstören. Sie würde ihn immer weiter in ein Abseits und in die Einsamkeit drängen. Er ist doch noch ein junger Mann.
Autor: © Alexander Rossa 2019